Noch bis Ostern gibt es den «anderen Kreuzweg». KünstlerInnen übersetzen jedes Jahr den Passionsweg ins Heute. Das Berner Pfarrblatt hat fünf ausgewählte Stationen besucht.
Text und Fotos: Vera Rüttimann
Im Chor der offenen kirche bern liegt eine Holzfigur quer in einer Kiste. Sie sieht aus wie ein Sarg. «Die Figur ist aus angeschwemmtem Holz, das ich am Ufer gefunden habe», sagt Gabriele Kurz Kohn. Die Station XIV, vor der sie steht, heisst «Ins Grab legen». Die Idee zu ihrer Installation sei ihr sofort gekommen: „Ich sah die Leichen im Meer und die angespülten Flüchtlinge am Strand. Diese Menschen werden unwürdig begraben. Meist ohne Namen.» Ihre Installation stehe für Nacktheit und Hilflosigkeit.
«Das macht etwas mit den Menschen»
Die eindrückliche Holzfigur ist eine von 15 Stationen des «Kunstkreuztweg»s. Die Stationen befinden sich zwischen dem Bahnhof Bern und dem Marzili am unteren Aareufer. Isabelle Schreier, Projektleiterin der offenen kirche, weiss jedoch, dass Kunstwerke beschädigt und gestohlen wurden.
Betroffen ist die Installation von Philipp Zürcher in der Velostation beim Bahnhof. Die Tonspur dazu, die von Flucht und Folter erzählt, sei mehrmals zerstört worden, sagt Isabelle Schreier. Jetzt hängt an der Tür ein Plakat, das auf Zürchers Dokumentation hinweist. Isabelle Schreier resümiert: «Kunst im öffentlichen Raum, das macht etwas mit den Menschen».
Auf dem Rückweg zur Kirche kommt Isabelle Schreier an der Station XIII «Pietà» vorbei. Unter dem Baldachin auf dem Bahnhofplatz hat der kasachische Künstler Pasha Cas eine beeindruckende Seilperformance geschaffen. Alles sei miteinander verbunden, sagt er. Isabelle Schreier sagt: «Mir gefällt die Idee, dass Künstler den Kreuzweg mit ihren eigenen Leidens- und Ohnmachtserfahrungen durch ihre künstlerische Interpretation ins Heute übertragen».
«Gross träumen»
An der Brückenstrasse 14 in der Berner Altstadt gibt es eine Hauswand, vor der PassantInnen stehen bleiben. So auch Andrea Kindler Broder und ihre Gruppe, die sich auf dem Kunstkreuzweg befindet. Zuerst sieht man es nicht. Und doch: Da ist ein Gesicht! Und da, Augen und Mund. Eingeritzt in eine riesige, mit Wein bewachsene Mauer.
Die kasachische Künstlerin Diana Scar hat die filigrane Ausseninstallation für die Station «Zum ersten Mal fallen» geschaffen. «Ich habe mit Andreas Nufer in der Altstadt nach einem geeigneten Ort für meine Idee gesucht. Dabei habe ich mich sofort in diese Mauer verliebt», erzählt sie im Gespräch am Vormittag. Die Arbeit mit der Schere in luftiger Höhe sei «wie eine Operation am menschlichen Körper» gewesen, sagt sie. Sie musste sehr vorsichtig arbeiten. «Ich durfte keine wichtigen Adern durchtrennen.»
Weiter geht es auf diesem alternativen Kreuzweg. Unterwegs zitiert Andrea Kindler Broder Diana Scare, die fragt, wonach wir suchen, wenn wir in den Himmel schauen: «Es ist immer etwas, das viel grösser und mächtiger ist als wir. Die Größe des Himmels gibt uns die Kraft, selbst groß zu träumen. Und unseren Weg trotz aller Hindernisse weiterzugehen». Die Musikerin Laura Schuler steuerte zu dieser Station das Stück «Shattered Mirror» bei.
Freude und Schmerz
Auf der Europapromenade kommt die Gruppe zur Station VI. Sie heisst «Schweißtuch». Tatsiana Yukhnavets hat sie gestaltet. Die weissrussische Konzeptkünstlerin hat sich im vergangenen Jahr mit dem Thema «Schleier» auseinandergesetzt. Ich zeige dem Betrachter die schwer fassbare, subtile und fragile Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit», zitiert Andrea Kindler Broder die Künstlerin. Ein Schleier, der, so die reformierte Pfarrerin, sowohl für Freude als auch für Schmerz stehen kann. Leider sind die Schleier gestohlen worden. Stattdessen sehen die Besucher:innen dieser Station Folien dieser Werke am Seil.
Sie müssen an sich glauben
Zoya Mahallati steht am Nachmittag im Marzili-Bähnchen. Der Name der «fliegenden» Station heisst «Mittragen». Die Künstlerin malt Frauen an die Fensterscheiben, die besondere Kleider tragen. In das Farbenfrohe mischt sich das Dunkle. Ihr Thema sind Frauen im Iran, die sich mehr und mehr emanzipieren. Andrea Kindler Broder sitzt Stunden später mit ihrer Gruppe im Bähnchen und bestaunt das Werk. «Sie gibt den unterdrückten Frauen ein Gesicht», sagt sie.
Die reformierte Pfarrerin zitiert Zoya Mahallati: «Wer hat gesagt, dass Fische nicht fliegen können. Vergiss nicht, dass sie zum Fliegen nicht nur Flügel brauchen. Sie müssen an sich glauben. Sie müssen glauben, dass sie fliegen können.» Und dann, sagt sie weiter, «kann nichts ein Hindernis für den Flug der Fische sein.» Vom Hinfallen, Aufstehen und Fliegen, davon handelt dieser künstlerische Kreuzweg.