Beatrice Eichmann-Leutenegger, Literatur- und Theaterkritikerin, sowie Autorin und Mentorin, erhielt als «Zeugin des freien und des kritischen Wortes» den Herbert-Haag-Preis 2010.

«Frauen können ein Thema anders beleuchten»

«Helvetia predigt!» - Beweggründe einer Gastpredigerin

Beatrice Eichmann-Leutenegger hat sich im Rahmen von «Helvetia predigt!» als Gastpredigerin zur Verfügung gestellt – ihre Beweggründe.

Von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Mittags um zwölf Uhr schlug meine Stunde. Mit der jüngeren Schwester stahl ich mich aus dem Pfarrhaus Sarnen, wo wir beim Onkel die Sommerferien verbrachten, in die Barockkirche St. Peter und Paul. Meine Schwester verwies ich als Zuhörerin ins leere Kirchenschiff, ich aber stieg auf die Kanzel und begann zu predigen. Kurz vor halb eins erschien der Onkel mit dem Brevier in der Hand unter dem Portal und befahl uns schmunzelnd an den Mittagstisch.

Zum Gang auf die Kanzel hatten mich die römischen Kinder angestiftet, die zwischen Weihnachten und Epiphanie in der Kirche Santa Maria in Aracoeli auf dem kapitolinischen Hügel predigten. Der Vater, der ein Studienjahr in Rom verbracht hatte, erzählte uns, es wäre eine Tribüne errichtet worden, damit die Mädchen und Buben vor dem wundertätigen Santo Bambino ihre Ansprache halten konnten. Viel später erst erkannte ich, dass es Roms Kinder mit ihrer Predigtmöglichkeit weitergebracht hatten als die Frauen – und dies einige hundert Meter Luftlinie vom Vatikan entfernt.

Pro und Kontra in der Bibel

In der Debatte um die Frauenordination wird häufig die ablehnende Aussage in 1 Kor 14, 34-36 herangezogen, die Frauen zum Schweigen verpflichtet. Indes könnte man auf andere Zitate verweisen, welche die Diskriminierung aufheben: «Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‘einer’ in Christus Jesus (Gal, 3,28).» Oder die pfingstliche Verheissung: «Ich werde von meinem Geist ausgiessen/ über alles Fleisch./ Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein/…(Apg 2, 17 – 18).»

Befreiend klingen diese Sätze, aber noch immer wird das weibliche Potenzial durch den Ausschluss vom Priesteramt an seiner Entfaltung gehindert. Äussere Schranken bestehen seit Jahrhunderten, aber auch solche im eigenen bisweilen verzagten Innern. Dies wurde mir bewusst, als ich im Frühjahr die Ausstellung «Frauen ins Bundeshaus» im Historischen Museum, Bern, besucht habe, die auf fünfzig Jahre Frauenstimmrecht zurückblickt. Welche Energie setzten die Pionierinnen ein, nachdem sie eigene Vorbehalte überwunden hatten! «Helvetia ruft!» - so hatte sich die Aktion genannt, die 2018 lanciert wurde, um mehr Frauen für ein politisches Amt zu gewinnen und eine ausgewogenere Geschlechterverteilung in der Legislative und Exekutive zu erreichen.

Mit der Stauffacherin gegen die Ängstlichkeit

«Helvetia predigt!» - mit diesem Satz rufen die Kirchenfrauen der Landeskirchen dazu auf, sich für eine Predigt am 1. August 2021 zur Verfügung zu stellen. Der Appell überzeugte mich. Aber ich musste jenem Teil meines Herzens, der ein ängstlicher Hase ist, gut zureden und den inneren Zensor zum Schweigen auffordern, bevor ich mich meldete. Dabei erinnerte ich mich an die Stauffacherin, die der Münchner Maler Ferdinand Wagner auf der Fassade des Schwyzer Rathauses dargestellt hatte. Fast täglich hatte ich als Kind das Bild der wackeren Frau gesehen, die ihren verzagten Werner zur Tat aufforderte. Schiller gab ihr im «Wilhelm Tell» den Satz mit: «Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich!»

Dank der ökumenischen Aktion «Helvetia predigt!» sollen Frauen in der Kirche sichtbarer werden und Beispiele für die nachkommende Generation hinstellen. Denn wie es im Bundeshaus bis 1971 an Protagonistinnen fehlte, sind auch in der Kirche Schweiz lange nur wenige Predigerinnen aufgetreten. Inzwischen schätzt man in den verschiedensten Bereichen gemischte Teams. Denn jede Frau (und jeder Mann) ist nicht nur ein Individuum, sondern Glied einer jahrhundertelangen Kette von prägenden Traditionen. So wird trotz einer Angleichung der Geschlechterrollen die Diversität fortbestehen, aber sie lässt sich kreativ nutzen. Gerade auf Grund der historischen und biologischen Lebenswirklichkeiten, die sich ins weibliche Erbgut eingeschrieben haben, können Frauen ein Thema anders beleuchten.

Ob aber ihre Sprache eine andere ist? Die Frage erinnert an die literarische Diskussion der siebziger und achtziger Jahre mit ihrer Formel «weibliches Schreiben». Rückblickend lässt sich sagen, dass die Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem Schreiben weitgehend dahinfällt. Es entscheidet die Qualität der Sprache, ihre Präzision, Sorgfalt, Bildhaftigkeit. Diese Vorzüge sind nicht an ein Geschlecht gebunden. Was zeichnet also eine gute Predigt aus? Er oder sie soll lebendig und begeisternd die frohe Botschaft ins Jetzt übertragen. Die Dichterin Silja Walter hat von der Fährfrau gesprochen, die ihre religiösen Erfahrungen über den Fluss ins Heute übersetzt. Wer vorne steht, sieht ein kritisches Publikum vor sich, sieht Suchende und Zweifelnde. Sie hegen den Anspruch an ein substanzielles WORT der Hoffnung. Als Sauerteig soll dieses in einem Alltag fortwirken, dem Gewissheiten längst abhandengekommen sind.

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