Gisula Tscharner will «mit Seelsorger:innen aller Art; das Urvertrauen in die Erde stärken». Foto: Vera Rüttimann

«Früher wäre ich als Hexe verbrannt worden»

Freie Ritualarbeit trifft Kirche

Gisula Tscharner aus Feldis führt ein bewegtes Leben. Die Wildpflanzenfachfrau begann Mitte der neunziger Jahre als eine der ersten Rituale ausserhalb der Kirche anzubieten. Konfessionsunabhängig gestaltet sie geistige Rituale, die anfangs nicht allen in der Kirche passten.

Interview: Vera Rüttimann

«pfarrblatt»: Gisula Tscharner, wie sind Sie kirchlich aufgewachsen?

Gisula Tscharner: Ich bin in einem sehr multireligiösen Pfarrhaus gross geworden. Mein Vater war reformierter Pfarrer in Küsnacht ZH. Seine Gemeinde war sehr heterogen. Bereits vor 70 Jahren kam es dort zudem zu ersten Kirchenaustritten. Mein Vater sagte jeweils zu mir: «Ich musste wieder ein Austrittgespräch mit jemandem führen, der die die Kirche verlassen hat. Da sind interessante Leute! Mit denen kann man gut diskutieren.» Diese Bemerkung fand ich interessant.

Was war für Sie der auslösende Moment, als Ritualbegleiterin zu arbeiten?

Ich wollte schon als Kind Priesterin werden. Aber eine für alle! Nicht nur für Katholik:innen oder Protestant:innen. Was mich früh gestört hat: Die Kirche hat vom Staat her ein Monopol auf spirituelle Versorgung bei Lebensübergängen. Ich habe oft erlebt, dass bei Verstorbenen, die zur Kirche ausgetreten waren, auf dem Friedhof der Gemeindekanzlist eine schäbige Rede gehalten hat.


Ich erkannte früh: Es braucht Leute, die bei Dingen wie Geburt, Trauung und Abschied eine Dienstleistung erbringen können, die konfessionsfrei ist. Hier sah ich meinen Platz. So habe ich 1993 ein Inserat im Amtsblatt von Mittelbünden gesetzt.

Was stand in diesem Inserat?

Es stand: «Neu biete ich Zeremonien zu Lebensübergängen an. Willkommensfeiern, Partnerschaft und Abschied. Konfessionsfrei und unabhängig von Religion.»

Wie waren Ihre Anfänge als Ritualbegleiterin?

Mein erster Schritt: Ich trat aus der Kirche aus. Dann startete ich in einem Beruf, den es zuvor noch gar nicht gab. Ich habe meinen ganzen multireligiösen Reichtum und meine Lebenserfahrung in meine Arbeit hineingelegt. Ich habe mich lange als «Seelsorgerin unterwegs» bezeichnet. Eine, die geografisch und innerlich unterwegs ist

Es kamen Leute auf mich zu, die ein Ritual für eine Taufe, eine Trauung oder für einen Verstorbenen wünschten. Alle hatten mit der Kirche und ihren Ritualen kaum mehr etwas am Hut. Ich musste weit reisen, denn anfangs hatte ich in Graubünden, meinem Wohnkanton, keinen einzigen Auftrag. Ein Interview mit «Meyers Modeblatt» änderte dies. Auf der Titelseite stand der Satz: «Früher wäre ich wahrscheinlich als Hexe verbrannt worden.» Danach hagelte es bei mir Aufträge.

Wie hat die Kirche auf Ihren Schritt reagiert?

Ich habe die ganzen Aggressionen der kirchlichen Institutionen gespürt. Ich wollte etwas Positives anbieten, aber erst einmal kamen die Hämmer. Kolleg:innen beschimpften mich als «Nestbeschmutzerin». Andere sagten mir: «Du verrätst deine Werte». In meinem Dorf wurde ich nicht mehr gegrüsst. Dennoch habe ich gewusst: Das ist meine Zukunft, mein Weg. Ich hätte diesen Schritt auch gemacht, auch wenn ich alles verloren hätte. Noch heute, und das war ja auch da Thema dieser Tagung, zeigen gewisse Teile der Kirche Vorbehalte gegenüber Ritualbegleiter:innen.

Gibt es Rituale, die Ihnen als Ritualbegleiterin besonders liegen?

Jede Zeremonie ist ein Kunstwerk. Jedes Ritual ist für mich wichtig. Wenn man von gewissen Dingen nur spricht, ist es nur kopflastig. Aber mit einem Ritual kann ein innerer Prozess angeregt werden.


Das Schwierigste sind für mich immer Hochzeiten. Es ist herausfordernd, in dieser heiter- ausgelassenen Stimmung mit Ritualen Tiefe hinein zu bringen. Das Schönste als Ritualbegleiterin ist für mich jeweils die Begleitung von Schnittstellenmomenten des Lebens. Wie jenem zwischen dem Sterben, dem Ende unserer Gastzeit auf Erden, hinüber in das Geheimnis hinaus.

Welche Erkenntnisse hat Ihnen die Tagung «Freie Ritualarbeit trifft Kirche» in der Paulus-Akademie gebracht (siehe Kasten unten)?

Es ist einiges in Bewegung geraten. Die Gespräche haben folgendes gezeigt: Menschen, die ihre Kasualien nicht mehr in der Kirche holen, werden nicht mehr derart diskriminiert wie früher.

Zudem gibt es Bestrebungen für eine gemeinsame Ausbildung für Ritualschaffende, wo auch die Kirche am Strang zieht. Angedacht ist an eine Grundausbildung über Rituale, die integriert sein soll in das Theologiestudium. Das zeugt von einer gewissen Annäherung zwischen Kirche und freien Ritualschaffenden.


Weiter ist da die Erkenntnis: Wir müssen keine neuen Rituale importieren. Wir haben einen reichen Schatz, nicht nur aus vorchristlicher Zeit, sondern allein schon von der Natur her. Schliesslich zeigte dieses Symposium: Die Menschen sehnen sich mehr denn je nach Ritualen.

Eigentlich eine gute Zeit für Ritualschaffende, oder? 

Ja, dieses Symposium kommt jedoch 30 Jahre zu spät. Es ist viel Kraft verschwendet worden durch den Konkurrenzkampf zwischen freien Ritualschaffenden und Angestellten der Kirchen. Zudem sind schon viele Leute wegedriftet und kirchlich nicht mehr sozialisiert. Sie sind für die Kirche verloren. Aber ich bin ein optimistischer Mensch. Ich denke: Jedes zu-spät-Sein hat auch einen Sinn. Dann war eine Idee eben noch nicht reif. Also machen wir das Beste daraus.

Wie können Ritualbegleiter:innen in dieser Welt heute einen Beitrag zu einer neuen spirituellen Kultur der Verbundenheit beitragen?

In Kollegialität sein mit den bestehenden spirituellen Anbieter:innen, mit Seelsorger:innen aller Art; das Urvertrauen in die Erde stärken und mit dem Fein-Spirituellen des Himmels in Kontakt sein; die Verbundenheit unter den Menschen stärken und pflegen. Letzteres ist die Aufgabe eines jeden Menschen.

 

Breites spirituelles Feld

Die Kirchen sind längst nicht mehr die einzigen Institutionen, die spirituelle Rituale anbieten; die freie Ritualarbeit bietet Alternativen. Unlängst trafen sich in der Paulus-Akademie in Zürich Ritualschaffende unter dem Titel «Freie Ritualarbeit trifft Kirche – Konkurrenz-Ergänzung-Potenziale?» zum Austausch.


Von Vera Rüttimann

Sie nennen sich Ritualberater:innen, Ritualbegleiter oder Ritualgestalterinnen. Sie leiten als Pfarrpersonen Kirchgemeinden und Pfarreien, arbeiten als Therapeut:innen oder Trauerbegleiter. Auch das spirituelle Feld, das sich hier versammelte, war breit: Es reichte von christlichen, buddhistischen und schamanistischen bis hin zu keltischen Traditionen.

Die Frauen und Männer bieten Rituale an zu Lebensübergängen wie Geburt, Hochzeit oder Begräbnis. Und in dieser säkularisierten Welt, so zeigte das Symposium, das gemeinsam von Vertreter:innen der reformierten und der katholischen Kirche sowie der Freien Ritualarbeit organisiert wurde, sind ihre Dienste gefragt.

Fachschule für Rituale
1997 haben sich erstmals freie Ritualbegleiter:innen getroffen und so entstand rasch ein neues Berufsfeld. Das Netzwerk «Rituale» wurde gegründet, aus dem 2000 der Ritualverband entstand. Seinen Sitz hat er in Stans OW. Dort werden freie Ritualbegleiter:innen ausgebildet.

Viele Tagungsteilnehmer:innen berichteten von Widerstand, den sie von Seiten der Kirche erlebten, obwohl sie Pfarrer:innen stets als Berufskolleg:innen betrachtet haben. «Es geht uns darum, Menschen an eine grössere Dimension zu erinnern», sagt Susanna Maeder, Leiterin Fachschule für Rituale.

Breite Vielfalt an Angeboten
An der Tagung stellten Anbieter:innen eine grosse Bandbreite an Ritualen vor. Eine Auswahl: Ein Gottesdienst für queere Menschen, der dieses Jahr in der Pasquart-Kirche in Biel stattfindet; ein Kerzenritual, das Chantal Graf in Schlosswil auf dem Vorplatz zum Friedhof jeweils organisiert; der Ritualverband veranstaltet jährlich ein Frühlingsritual zur Tag und Nachtgleiche, wo Gäste einen Samen in einen Topf setzen können; in der Kirche des Kulturklosters in Altdorf gibt es einen Segensstein, wo Rituale stattfinden.

Konkurrenz-Ergänzung-Potenziale? Die Grenzen, so die Hoffnung vieler, sollen in einem Gottesdienst offener und transparenter werden, so dass neue Formen von Spiritualität Platz haben. Susanna Maeder betont: «Meine grosse Vision ist es, dass Kirchen wieder zu spirituellen Zentren werden. Zu Leichttürmen, die Menschen anziehen und nicht abstossen.» Anziehung passiere dann, wenn das Modell der offenen Kirche gelebt werde.

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