«So haben wir noch so viele schöne Momente gemeinsam erlebt.» Familie Tuor mit ihren Zwillingsmädchen. Foto: Daniela Bucher

Fünf geschenkte Jahre

Ein Kinderhospiz will in Bern schwerkranken Kindern und ihren Familien helfen

Als könnte sie nur durch einen Strohhalm Luft holen: So fühlte sich Atmen für die knapp fünfjährige Nerina an. Ihr Herz wurde immer schwächer – vor zwei Jahren hat es aufgehört zu schlagen. Die Familie wäre froh gewesen, hätte es ein Kinderhospiz gegeben. Demnächst soll ein solches in Bern entstehen.

Von Marcel Friedli

«Wir haben eine gesunde Tochter», sagen Michaela und Alain Tuor aus Münsingen. «Sie hat fünf Jahre lang auf vieles verzichtet und hat das Recht auf ein schönes Leben. Und wir haben das auch.» Das zu sagen, fällt den beiden schwer. Dass sie diese Worte über die Lippen bringen, haben sie der Trauerarbeit zu verdanken, die sie bislang geleistet haben.

Ihre Zwillingstochter Nerina ist vor zwei Jahren gestorben.

Rückblende: Kurz nach der Geburt wird Nerinas Herzfehler mit einer heiklen Operation zwar behoben. Doch es geschieht, was selten vorkommt: Nerina hat Lungenhochdruck – ist unheilbar krank. Nun beginnt ein Marathon: Medikamente vorbereiten, Sauerstoffflaschen bereitstellen. Arzttermine koordinieren, sich um die beiden Zwillingstöchter, um den Haushalt kümmern und dazu noch den beruflichen Anforderungen gerecht werden: Michaela und Alain Tuor geraten an den Rand der Erschöpfung.

Tanzen, reiten

Die Familie sehnt sich nach einer Pause, bei der sie bei der Betreuung entlastet wird. Doch ein entsprechendes Angebot im Schwarzwald wird nicht vergütet. Eine Alternative gibt es in Davos – für Nerina jedoch zu hoch gelegen. «Wir wären froh gewesen», sagt Michaela Tuor, «hätte es ein Angebot wie das Kinderhospiz allani in Bern gegeben.» (vgl. Kasten 1)

Die Wende erfolgt 2019. «Uns wurde bewusst: Wir wollen die Zeit geniessen, die wir gemeinsam noch haben», sagt Alain Tuor. So notiert die Familie die Vorhaben: im Bett zmörgele, unter funkelnden Sternen spazieren gehen. Tanzen, auf einem Pferd reiten. Und vor allem: Ferien. In Italien, in Südfrankreich. «Wir sind unglaublich dankbar, dass wir diese Liste erstellt haben», sagen Michaela und Alain Tuor. «So haben wir noch so viele schöne Momente gemeinsam erlebt.»

Anfang 2020 geht es Nerina schlechter. Die Eltern müssen entscheiden: Soll ihre Tochter zu Hause oder im Spital sterben? (vgl. Kasten 2) «Für mich war klar, dass sie zu Hause sterben darf. Das Spital war mir viel zu hektisch, zu unpersönlich», sagt Michaela Tuor. «Ich hingegen», sagt ihr Mann, «hatte Angst, ich könnte an einem Ort, an dem meine Tochter stirbt, nicht mehr leben.»

Ein Lied, ein Regenbogen

Schliesslich bleibt Nerina zu Hause. Bis zu ihrem letzten Herzschlag, drei Tage lang, sitzt die Familie an ihrem Bett. «Am Ende», sagt Michaela Tuor, «war es auch Erleichterung. Wir wussten, dass sie jetzt nicht mehr leiden muss.»
Heute, zwei Jahre später, ist die Familie weiter im Trauerprozess. «Ich will kein Mitleid. Ich will nicht jammern», sagt Michaela Tuor. «Uns wurden fünf Jahre mit Nerina geschenkt.»
Ein Lied, ein Regenbogen, ein Zwillingskinderwagen: Sie erinnern an Nerina. «Unsere Tochter», sagt Alain Tuor, «wird uns stets fehlen.»
 

Lücke zwischen Kinderzimmer und Klinik

Doppeltes Tabu: der Tod an sich, und erst noch bei Kindern. Jährlich sterben in der Schweiz rund 500 Kinder. Etwa die Hälfte davon stirbt im ersten Lebensjahr. Darum sind Eltern mit sterbenskranken Kindern besonders auf Unterstützung angewiesen. Eines der ersten oder das erste Kinderhospiz soll in Bern entstehen; unterstützt mit einer halben Million Franken aus der Kasse der katholischen Kirche Region Bern, als erstes Solidaritätsprojekt unter dem Motto «Bärner Härz». 
Der Umbau des Bauernhauses soll demnächst erfolgen; eröffnen soll es nächstes Jahr. allani bietet Platz für sechs bis acht Kinder. Es soll Spitäler und Kinder-Spitex nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Weitere Infos: allani.ch

Lebenswerter Alltag

«Unheilbar kranke Kinder und deren Familie», sagt Eva Bergsträsser, «benötigen vor allem Kontinuität sowie gute und erfahrene Ansprechpersonen. Wir unterstützen die Familien auch beim Planen und Koordinieren.»
Eva Bergsträsser leitet die Abteilung für palliative Begleitung von Kindern und Jugendlichen am Universitätskinderspital in Zürich. Es gehe nicht nur um die medizinische Betreuung, sagt Eva Bergsträsser. «Bei Palliative Care geht es auch um das Drumherum. Denn Kinder leben – auch wenn sie schwer krank sind. Sie haben einen lebenswerten Alltag.»
Oft erhalten Familien und Angehörige nicht die nötige Hilfe. Weil das Angebot zu klein ist. Und weil Palliative Care für Kinder immer noch ein Schattendasein fristet. «Politik und Öffentlichkeit sind zu wenig sensibilisiert», sagt Eva Bergsträsser. «In den letzten fünf Jahren hat sich in der Schweiz zwar viel getan. Doch im Vergleich zu Ländern wie Deutschland hinken wir hinterher.»

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