Die Schicksalsgöttin Moira mit Strickzeug und die Bahren-Trägerinnen begrüssten das Publikum mit Engelsmiene und Seifenblasen über dem
Eingang der St. Josef-Kirche in Köniz. Fotos: Christina Burghagen

«Gewinner sind glücklicher, Verlierer sind spannender»

Ein Singspiel in Köniz regt zum Weiterdenken an

Das musikalische Schau-, Sing- und Sinnspiel «Zwischen hier und dort» von Philipp Wilhelm in der St. Josef-Kirche in Köniz schenkte dem zahlreich erschienenen Publikum am Wochenende ein Theatererlebnis zum Weiterdenken.

Von Christina Burghagen

Auf dem Mauervorsprung über dem Eingang der Kirche präsentiert sich ein ungewöhnliches Bild: Eine würdevoll in Schwarz gekleidete Frau strickt gemächlich mit dicker roter Wolle, während zwei Mädchen Seifenblasen regnen lassen. Mit einem Bühnen-Himmel voller bunter Lampions wird das Publikum im Innern der Kirche begrüsst. Eine Tänzerin huscht mit geschmeidigen Bewegungen durch den Bühnenraum, staubt Flächen ab und schwingt einen Reisigbesen. Eine junge Frau taucht mit einem grossen Netz auf, um leuchtende Lampions einzufangen. Das Publikum folgt dem Szenario gebannt.
 


Die Menschen als Suchende

Jäh findet die Traumsequenz ein Ende, als der hilflos wirkender Marcel mit zerfledderter Landkarte auftaucht. Er scheint den Weg verloren zu haben, was seine Frau Lea mit beissenden Bemerkungen kommentiert und spöttisch «Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald» singt. Damit beginnt das Episodentheater mit Menschen, die irgendwie ins Straucheln geraten sind. Nicht viel glücklicher als Marcel scheint der Fahrradkurier Serge zu sein. Die Navi-Stimme aus dem Off malträtiert ihn mit verwirrenden Ansagen. Er habe sich gerade von seiner Freundin Sarah getrennt, lässt Serge wissen, und wolle jetzt an diese bestimmte Adresse, um sein Paket abzuliefern, dann habe er Feierabend.

Louis schiebt seine Tante Agnes im Rollstuhl. Sie möchte unbedingt zur Linde, unter der sie einst mit ihrem Mann Hans sass. Doch die Linde gibt es nicht mehr und der Neffe hat Mühe ihr das zu gestehen. Die 80-jährige Olga scheint hingegen genau zu wissen, was sie will, und zündet sich eine Zigarette an. Der Oberarzt im Hospital, das sie fluchtartig verliess, wollte ihr ein Nikotinpflaster verpassen. «Doch das klebt doch zwischen den Zähnen», habe sie zu ihm gesagt. «Ich habe immer auf eigene Verantwortung gehandelt! Mir kommt keine fremde Zahnbürste mehr ins Bad», betont Olga.

Grandiose Musik

Zwischendrin läuft der Chor zur Hochform auf. Eben sang er noch «Bamm … Bamm … Bamm …» als Untermalung der Geschehnisse, doch nun schwingt sich der Dirigent (Dominik Nanzer) schauspielend als «Chef» aufs Podest und begrüsst mit: «Meine Damen und Herren und alles dazwischen …» Immer wieder erklingt das Lied «Zuoberst ist’s am besten» und entpuppt sich als Ohrwurm. Die von Pianist Willy Schnyder ins Stück komponierte Musik gibt der eigenwilligen Inszenierung Halt. Der ad-hoc-Chor umrahmt die Szenen, die wie eine lebendigen Reportage Bilder, Gefühle und Stimmungen im Kirchenraum entstehen lassen.

Die Seifenblasen-Pusterinnen entpuppen sich auf der Bühne als Bahren-Trägerinnen, die mit herrlicher Frechheit in Sarkasmus gebadete Geschichten erzählen, wie die von einem Herrn Zoss, der immer zur Höchstleistung bereit, am Ende seines Lebens die modernsten High-Tech-Sportprothesen trug.
 


Wer ist der beste Verlierer?

Gewinner oder Verlierer? Wie wird man glücklich, fragt sich das Chormitglied «43». Das Leben besteht aus Wettbewerben – schneller, weiter, höher … Wer baut die schönsten Steinmännchen? Wer erntet den grössten Kürbis? Wer hat die niedlichste Katze? Es gäbe für alles Wettbewerbe und der Chef, ein Fan aller Gewinner, ruft: Kraft, Kreativität, Innovation! Die würdevolle strickende Dame, die sich als Schicksalsgöttin Moira herausstellt, sitzt auf einem Tennis-Schiri-Stuhl und «43» nimmt auf Augenhöhe neben ihr Platz auf einer Leiter. Dieser Perspektivenwechsel verschafft ihm Weitblick: Gewinner sind glücklicher, aber Verlierer sind spannender, überlegt er.

Im Dialog mit Moira entwickeln sich Weisheiten: «Wer gewinnt, verliert. Wer verliert, gewinnt.» Gewinner sind bei ihren Träumen angekommen. Und dann? Im Theaterstück «Zwischen hier und dort» fehlen auch Happyends nicht. Die Inszenierung von Philipp Wilhelm Stück ist aussergewöhnlich, sie gibt keine Antworten, verschenkt aber jede Menge Denkanstösse. Zu erwarten ist kein Theater im herkömmlichen Sinne, sondern ein besonderer Bilderbogen voller Farbe mit feinen warmen Klängen der Musik von Willy Schnyder am Klavier, mit Perkussonist Marc Jundt und Saxofonistin Araxi Karnusian.
 

Hinweis: Weitere Aufführungen des Singspiels «Zwischen hier und dort» am 29. Oktober, 20.00 und am 30. Oktober, 18.30. Kirche St. Josef, Stapfenstrasse 2, Köniz. Eintritt frei, Kollekte.

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