Heinrich von Seuse, mit Christusmonogramm auf der Brust, im Dialog mit Christus. Bild: Wikimedia

Glauben mit Haut und Haar

Die Bedeutung des Körpers im Christentum

In ihrem Buch «Bodies of Memory and Grace» macht sich die Theologin Elke Pahud de Mortanges auf eine Spurensuche nach der Bedeutung des Körpers im Christentum. Im gelebten und dargestellten Glauben stösst sie auf Überraschendes und Irritierendes.

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Wie erleben Sie das Christentum, als sinnlich oder körperfeindlich?

Elke Pahud de Mortanges: Es ist verzwickt. Je nachdem, von wo aus ich auf die vielgestaltige christliche Welt blicke, erlebe ich diese als zutiefst sinnlich oder als zutiefst körperfeindlich. Da sind die abwertenden Diskurse, die um Keuschheit, Reinheit und Erbsünde kreisen und in der Geschichte des Christentums weit zurückgehen. Diese haben uns das Erleben von Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und sexuellem Begehren enorm vergiftet. An dieser Last mit der Lust tragen wir bis heute schwer. Auch angesichts kirchlicher Missbrauchsskandale sehen wir heute, an welche Abgründe diese Tabuisierungen und Abwertungen führen. In «Bodies of Memory and Grace» gebe ich dem anderen, dem positiven Blick aufs Leibliche und Sinnliche Raum.

Was gab den Anstoss zu diesem Thema?

Im Museum für moderne Kunst in Lima stiess ich aufs Bild von Gaby (siehe Buchcover), das Teil der Ausstellung Vírgenes de la Puerta war. Ihre Kühnheit und Menschlichkeit liessen mich nicht mehr los. Diese zeitgenössisch inszenierte katholische Ikone löste in mir ein Suchen und Denken aus. Mittlerweile bin ich überzeugt, dass Religion, Glaube und Frömmigkeit etwas ganz und gar Körperliches sind.

Das christliche Heil ist in Jesus Fleisch geworden und hat somit selbst einen Körper. Doch nicht nur Jesu Leib, auch unsere Körper sind von Bedeutung. Als Gläubige erinnern wir uns leib-haftig an seine Geschichte und ver-körpern sie im wahrsten Sinn des Wortes. So auch Gaby, die Transgenderfrau aus Peru: Mit der Dornenkrone über dem Kopf und der Narbe in der Körpermitte verkörpert sie die Passion Jesu, die sich dabei mit ihrer eigenen Leidensgeschichte verschränkt.

Was hat Sie bei Ihrer Recherche überrascht?

Wie elementar, vielfältig und theologisch bedeutsam all diese Formen leibhaftiger christlicher Frömmigkeit und ver-körpernder Aneignung sind! Mir wurde bewusst: Glauben ist etwas, das Menschen mit Haut und Haar, mit Kopf und Fuss, mit Hand und Herz tun. Glauben ist ein zutiefst leibliches, sensitiv-sinnliches Tun und Erleben: ein Sehen, Hören, Gehen, Empfinden, ein Begehren, Schmecken und Tasten, ein Verschmelzen und sich gleich machen mit dem, dessen Namen wir Christ:innen tragen.

Sie beleuchten die Bedeutung des Körpers im Christentum anhand von Bildern, Prozessionen und Kunstperformances. Wie haben Sie diese ausgewählt?

Diese Schlaglichter haben sich fast von allein gruppiert und gefunden. Wie sollte ich bei Gaby nicht an die mittelalterliche Heilige Wilgefortis denken, die man in manchen katholischen Kirchen findet? Sie sieht wie Jesus aus, hängt wie er am Kreuz, hat aber Brüste, trägt ein langes Kleid und goldene Schuhe. Die Herzverwundung der spanischen Mystikerin Teresa von Avila durch den göttlichen Geliebten ihrerseits erinnert mich an Frida Kahlos Bild La memoria o el corazón. Darauf stellt sie sich selbst mit pfeildurchbohrter Brust dar, und vor ihr liegt ihr blutiges Herz.

Inwiefern gehören Kunst und Christentum zusammen?

Mir hilft Kunst, Fragen zu stellen und Dinge neu zu sehen, zu denken und zu verstehen. So wird vermeintlich Christlich-Fremdes plötzlich nah und innerlich, und vermeintlich Weltlich-Postsäkulares bekommt eine menschliche Tiefe und göttliche Weite, die mich zutiefst erschüttern. Von der Künstlerin Marina Abramović habe ich gelernt, was christliche Passion wirklich bedeutet bzw. was es heisst, sich dem Willen Anderer existentiell auszuliefern.

In einer Performance breitete sie 72 Gegenstände aus, unter anderem eine Bürste, Brot, Wein, Honig, eine Kerze, eine Gabel, ein Taschenmesser, Nägel, eine Peitsche und eine Pistole. Sie lud das Publikum ein, sich zu bedienen und mit ihr zu machen, was es wollte. Die Menschen wurden nach und nach übergriffiger und rissen ihr die Kleider vom Leib. Als ein Mann die Pistole lud, schritt das Publikum ein, und die Performance wurde abgebrochen. Gaby ihrerseits führte mich in die mittelalterlich-kirchliche Buchmalerei, wo ich auf unerwartete, genderfluide Inszenierungen des Passionsleibs Jesu stiess.

Wie weit darf Kunst bei religiösen Themen gehen?

Da treffen Sie einen heiklen Punkt. Religiöse Gefühle sind zu achten. Sie sind schnell verletzt. Meines Erachtens wird aber auch zu schnell und zu laut der Blasphemievorwurf erhoben, so etwa bei der Ausstellung, in der ich Gaby fand.

Und wann geht Ihnen Kunst zu weit?

Die Kunst der Schweizer Malerin Miriam Cahn wurde wegen Darstellung von sexueller Gewalt als Pornographie denunziert. Cahn hat diesen Vorwurf von sich gewiesen. Ich denke zu Recht, so wie auch der Vorwurf, Gaby sei blasphemisch, zurückzuweisen ist. Kunst kann für mich fast nicht zu weit gehen. Wenn sie jedoch menschenverachtend ist und Rassismus, Genozid oder Shoa verherrlicht, ist die Grenze für mich überschritten.

Ansonsten können und müssen wir es aushalten, mit verstörenden Blicken auf Menschen, die Welt und unseren Gott konfrontiert zu werden. Ich erlebe genau diesen anderen Blick als heilsam, selbst wenn ich ihn nicht teile oder er mich schmerzt. Weil er mich zwingt, um meine Wahrnehmung zu ringen, sie vielleicht zu korrigieren oder aber zu widersprechen. Gegen die Kunst oder die Wirklichkeit, je nachdem.

Warum haben Sie Ihren Buchtitel auf Englisch gesetzt?

Weil ich prägnant und präzise sein wollte. Es macht einen grossen Unterschied, ob ich Memory mit Gedächtnis, Gedenken oder Erinnerung übersetze. Oder ob ich Body mit Leib oder Körper übersetze. Im Buch erläutere ich das und zeige, wie diese zeitgenössischen Diskurse in den Kultur-, Geschichts- und Genderwissenschaften den Rahmen meiner Suche nach dem Körper im Christentum bilden.

Was verstehen Sie unter den titelgebenden «Bodies of Grace»?

Grace könnte man am ehesten mit dem altertümlichen Wort «gebenedeit» übersetzen. Im Rosenkranz ist die gebenedeite Frucht des Leibes Mariens voll der Gnade. Ebenso sind es die Körper der Menschen, von denen mein Buch handelt. Sie sind von Bedeutung. Die einen haben ihren Leib zum Echoraum und Ort der Erinnerung an die Passion Jesu gemacht, um ihm nahe zu sein und ihn auf ihrem Leib zu spüren. Andere, wie Gaby, tragen die Insignien der Passion Jesu auf ihrem Leib und seine Dornenkrone über dem Kopf, weil wir nicht gegen ihre gesellschaftliche und kirchliche Stigmatisierung und Ausgrenzung aufstehen. So wie auch damals niemand aufstand und «Halt!» schrie, als Jesus ans Kreuz genagelt wurde.

Lesetipp
Elke Pahud de Mortanges: Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums, Theologischer Verlag, Zürich 2022.

Zur Autorin
Prof. Elke Pahud de Mortanges lehrt seit 2008 Dogmatik und Dogmengeschichte und ist seit 2024 wissenschaftliches Mitglied des Zentrums für Anthropologie und Gender Studies an der Universität Freiburg i. Br. An der Universität Fribourg ist sie seit 2013 Dozentin für Genderfragen im religiösen Kontext. Zu ihrer Forschung gehören Religion und Kulturgeschichte, Christentum – Gedächtnis – Körper, Frauenreligionsgeschichte, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte der Neuzeit, Kunst und Philosophie und die Theologische Erkenntnislehre.
Weitere Infos: https://elkepahuddemortanges.com

Vortrag: Ist das Christentum körperfeindlich?
Am Anfang des Christentums steht der Körper. Im Rahmen eines Vortragsabends nimmt die Theologin Elke Pahud de Mortanges Interessierte mit auf eine Spurensuche in der Kunst und zeigt überraschende und irritierende Darstellungen von Körper und Geschlecht.
Dienstag, 23. April, 18.15, im aki, Alpeneggstrasse 5, Bern. Eine Kooperation mit «Kirche im Dialog» und der Buchhandlung Voirol.


Statements

Geneva Moser, Fachmitarbeiterin aki Bern:
«Bei «Bodies of Memories and Grace» fällt das Titelbild des Buchs auf. Es ist Teil des peruanischen Kunstprojekts «Vírgenes de La Puerta», bei dem verschiedene trans Frauen wie katholische Ikonen inszeniert wurden. Das hat mich angesprochen: Hier wird eine Theologie betrieben, die von der unantastbaren Würde von LGBTI* ausgeht und die diesen Perspektiven einen Platz gibt. Mir ist es im aki ein Anliegen, zu vermitteln, dass Kirche vielfältig ist. Im April stellen wir Elke Pahud de Mortanges’ Sicht zur Diskussion. Wie interpretiere ich Kirchenkunst? Wie bringe ich persönlich Körper- und Christ*in-sein zusammen? Mit welchen Beispielen bin ich nicht einverstanden? Und welche berühren Dinge, die mir «heilig» sind?»

Angela Büchel Sladkovic, Kirche im Dialog:
«Der Körper verbindet Kunst und Theologie. Glaube beschreibt den Körper, schreibt auf den Körper und wird körperlich-konkret gelebt. Kunst blickt auf den Körper, bildet ihn ab, verfremdet, inszeniert. Kunst fragt und ermöglicht neue Perspektiven. Das ist für mich sehr bereichernd. In Elke Pahud de Mortanges’ Buch und Vortrag geht es ums Erinnern und Verinnerlichen der christlichen Botschaft. Es ist wichtig, über christliche Traditionen und Praktiken, befreiende wie unterdrückende, ins Gespräch zu kommen.»

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