Eine der Seenotrettungen der «Sea-Eye 4» im Juni 2022. Foto: Camilla Kranzusch, sea-eye.org

«Heimkehr ist keine Option»

Seenotrettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Interview mit einer freiwilligen Helferin

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(15.07.22) Laura Crameri, 27, hat sich im Juni einen Monat lang freiwillig bei der Seenotrettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer engagiert. Sie berichtet über ihre Aufgaben und Erlebnisse an Bord der «Sea-Eye 4».

Interview: Anouk Hiedl

«pfarrblatt»: Wie kam es zu Ihrem Einsatz auf einem Seenotrettungsschiff?

Laura Crameri*: Ich war 2016 mit einer Schweizer Organisation an der serbischen Südgrenze, wo wir Geflüchtete mit dem Notwendigsten unterstützten. David, ein Logistiker, den ich von dort her kannte, hat mich im Dezember gefragt, ob ich bei Seenotrettungen im Mittelmeer mithelfen wolle, weil ich Arabisch kann. 

Während meiner letzten acht Monate im Libanon hatte ich Projekte ausgesucht, bei denen ich sprachbedingt nicht so viel Verantwortung hatte. Auf der «Sea-Eye 4» war das anders.

Inwiefern?

Als «post-rescue coordinator» war ich an Bord die erste Ansprechperson für Gerettete. Ich arbeitete eng mit dem medizinischen Team zusammen, plante und koordinierte die Essensausgabe und nahm Kontakt mit italienischen NGOs auf, um besonders vulnerable Geflüchtete zu unterstützen. Auf der «Sea-Eye 4» war nicht nur Arabisch gefragt, ich habe auch Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch gesprochen.

Wie haben Sie sich vorbereitet?

Nebst einer professionellen Schiffscrew mit Kapitän, Ingenieuren, Elektrikern, Deckmitarbeitenden usw. bestand die freiwillige Mannschaft unter anderem aus Ärzt:innen, Parameds, Rettungsbootfahrern und Medienkoordinator:innen. Bei einer mehrtägigen Einführung an Bord lernten wir, wie die «Sea-Eye 4» funktioniert und erfuhren mehr über die Fluchtrouten. Wir trainierten intensiv, was man bei einer Seenotrettung macht: mit den Rettungsbooten rausfahren, die Geflüchteten sicher aufs Mutterschiff bringen, sie an Bord registrieren, mit Essen und Trinken versorgen und medizinisch abchecken. Nach drei Tagen legten wir in Richtung «Rettungszone» ab. Die Flüchtlinge nehmen ab Libyen Kurs auf Südeuropa. Rettungsschiffe wie die «Sea-Eye 4» patrouillieren auf dem Mittelmeer und suchen dort die internationalen Gewässer mit dem Feldstecher nach Booten in Seenot ab.

Wie haben Sie die Seenotrettungen erlebt?

Einer der Notrufe kam um 04.00. Es war ein hölzernes Boot mit 290 Menschen an Bord, die sich auch im stickigen Motoren-Untergeschoss drängten. Unsere beiden Rettungseinsatzboote fuhren voraus, und wir bereiteten die Aufnahme dieser Menschen auf der «Sea-Eye 4» vor. Die Kontaktaufnahme mit Personen in Seenot ist immer ein schwieriger psychologischer Moment, da sie grosse Angst haben und leicht in Panik geraten. Es kann vorkommen, dass einige auf die Rettungsboote springen wollen oder in ihrer Verzweiflung versuchen, zum Mutterschiff rüberzuschwimmen. Wir verteilen allen daher sofort Rettungswesten, bevor sie in mehreren kleinen Gruppen mit den Einsatzbooten auf die «Sea-Eye 4» gebracht werden. Wenn ein Fluchtboot sinkt oder Menschen im Wasser sind, schmeissen wir alles, was sie über Wasser halten kann, ins Meer, damit sie sich daran festhalten können. Bei dieser Rettung drängte uns die sogenannte libysche Küstenwache weg, sobald das Fluchtboot leer war, wahrscheinlich um den Bootsmotor zu holen. Viele der Geflüchteten verloren deshalb ihr weniges Gepäck inklusive Dokumente. Wenn möglich versuchen wir nach der Rettung die Boote unbrauchbar zu machen, damit sie nicht notdürftig repariert – und somit umso gefährlicher – wiederverwendet werden.

Wie ging es den Geflüchteten an Bord der «Sea-Eye 4»?

Alle waren erschöpft und ängstlich und bekamen als Erstes eine Notration, Trinkwasser, Wärmedecken und einen Platz zum Schlafen. Viele litten unter Verätzungen vom Salzwasser-Treibstoff-Gemisch im Fluchtboot und mussten medizinisch versorgt werden. Wir sagten ihnen, dass wir nicht wissen, wann und wo wir an Land gehen dürften. Die ersten Tage war das OK, dann wuchs die Angst, nicht in Sicherheit anzukommen oder zurückgeschickt zu werden. Als uns endlich ein Hafen zugewiesen wurde, tanzten viele vor Freude. Von der ersten Rettung bis zur Ankunft in Messina waren wir neun Tage an Bord. Die Ausschiffung dauerte drei Tage – für viele ein Stressmoment, nicht gleich aussteigen zu dürfen.

Woher stammten die Geflüchteten?

Aus über 20 Nationen, vor allem aus Bangladesch und Pakistan, aber auch aus Ghana, Gambia, der Elfenbeinküste, Kenia, Eritrea, Äthiopien, Ägypten, Nigeria, Sudan, Mali und Syrien. Fast niemand war aus dem Transit- und Arbeitsland Libyen. Wer dort illegal einwandert, kann zu Zwangsarbeit verurteilt werden. Viele Migrant:innen leben dort in Camps, die von der Miliz geführt werden. Dort kommt es täglich zu enormer Gewalt und sogar Folter. Das ist kein Ort zum Überleben. Die Weiterreise oder Flucht geht auch auf Kosten ihrer Familie. Heimkehr ist deshalb keine Option.

Welche Rolle spielen die Küstenwachen, die EU bzw. Frontex?

Ursprünglich leisteten vor allem Italien und Malta, teilweise im Auftrag der EU, Seenotrettung auf dem zentralen Mittelmeer. Seit 2015 hat sich das politische Klima in der EU gegen Geflüchtete und somit auch gegen die Seenotrettung gewendet. Wenn Flugzeuge der EU-Grenzschutzagentur Frontex Geflüchtete in Seenot sehen, leiten sie diese Info auch an die libysche Küstenwache weiter, die daraufhin illegale Pull- und Pushbacks durchführt. Italien ist eines der einzigen europäischen Länder, das noch Rettungsschiffe in seine Häfen einfahren lässt, Malta erlaubt dies schon lange nicht mehr.

NGOs wie die «Sea-Eye» warten jedoch meistens tagelang auf einen Hafen oder werden dort mitunter nach sogenannten Hafenstaatskontrollen festgesetzt. Das System versagt dabei auf vielen Ebenen. Seenotrettung ist in Europa leider mittlerweile grösstenteils politisch unerwünscht. Die EU bezahlt Libyen für die Zurückhaltung von Geflüchteten und unterstützt es mit Schnellbooten und Trainings. Frontex überwacht das Gebiet und hilft, illegale Pushbacks von Fluchtbooten zu koordinieren. Flucht und Immigration sind auf legalem Weg kaum möglich, weil Europa fast alle entsprechenden Möglichkeiten abgeschafft hat oder unmöglich macht. Doch Flüchtende machen sich auf den Weg, unabhängig davon, ob Seenotrettungsschiffe da sind oder nicht. Seit Jahren überleben Unzählige ihre Flucht übers Mittelmeer nicht.

Stimmten Ihre Erwartungen mit der Realität an Bord überein?

Ich wusste, dass wir mitunter niemanden retten würden, weil wir zur falschen Zeit am falschen Ort wären oder zuvor bereits Pushbacks von Libyen stattgefunden hätten. Doch schliesslich hatten wir fast 500 Leute an Bord. Die «Sea-Eye 4» ist ein grosses Schiff, doch die tagelange Versorgung von so vielen Menschen ist für alle enorm anstrengend. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen schnell an Land gehen dürfen. Mit mehreren Hundert Überlebenden an Bord mussten wir einiges anpassen und Wege finden, um Essen und medizinische Versorgung für alle zu gewährleisten. Die dringendsten Fälle hat die italienische Küstenwache notevakuiert.

Was hat Sie beeindruckt?

Die technische Ausrüstung des Schiffs, das – wie eine kleine Stadt auf dem Meer – seinen eigenen Strom und Trinkwasser produziert. Ebenso die rollende Vorratsplanung bzw. Kalorienberechnung pro Person, da wir nicht wussten, wie viele wir sein würden. Von den unzähligen dehydrierten, verletzten und traumatisierten Geflüchteten hatten viele Krätze, Augen- und Ohrenentzündungen, Fieber und am Schluss auch Magen-Darm-Grippe. Obwohl alle wie die Sardinen gedrängt schliefen und sich nur fünf WCs teilten, lebten hier knapp 500 Menschen friedlich und kooperativ zusammen. Ich nehme die gute Erinnerung mit, an einem Ort gewesen zu sein, wo so etwas möglich ist. Es ist etwas anderes, das zu erleben, als darüber zu lesen.

*Die junge Schweizerin Laura Crameri hat Nahoststudien und internationale Beziehungen studiert. Sie arbeitet aktuell in London im sozialen Bereich mit Menschen in schwierigen Situationen.

Seit 2016 sucht die zivile Hilfsorganisation «Sea-Eye» im Mittelmeer – der gefährlichsten Fluchtroute, da es kaum eine andere gibt – nach Menschen in Seenot und kämpft so gegen den täglichen Verlust von Menschenleben auf See. Die Organisation wird von vielen Kirchen und Privaten finanziell unterstützt.

Buch- und Filmtipp
• Erik Marquardt: Europa schafft sich ab. Wie die Werte der EU verraten werden und was wir dagegen tun können, Rowohlt, 2021. 240 Seiten, Fr. 20.50.
Lager der Schande. Europas Libyen-Deal, Dokumentarfilm (2021)

 

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