In Kent Harufs «Lied der Weite» finden sich Parallelen zur Weihnachtsgeschichte.
Foto: Heyzeus Escribo, unsplash.com

Herbergssuche in Colorado

Béatrice Eichmann-Leutenegger liest Kent Haruf

Der amerikanische Autor Kent Haruf (1943–2014) hat sich in seinen Romanen der kleinen Leute angenommen.

Von Béatrice Eichmann-Leutenegger

Ein Morgen in der fiktiven Kleinstadt Holt: Die 17-jährige Schülerin Victoria erwacht, ihr ist speiübel und sie muss sich übergeben. Eine ungewollte Schwangerschaft, stellt die Mutter klar, beschimpft ihre Tochter als «blöde kleine Schlampe» und stellt sie vor die Tür. Wo soll Victoria unterkommen? Ihre Herbergssuche beginnt.

Liest man Kent Harufs Roman «Lied der Weite» (1999 erschien die Originalausgabe «Plainsong»), könnte man mitunter verborgene Parallelen zur Weihnachtsgeschichte erahnen, ohne die Story zu vereinnahmen. Victoria will trotz aller Widrigkeiten ihr Kind austragen und wendet sich vorerst an ihre Lehrerin Maggie Jones. Doch deren dementer Vater zeigt sich gegenüber der neuen Untermieterin aggressiv, sodass Victoria eine andere Bleibe finden muss.

Maggie Jones gelingt das Kunststück, ein älteres, unverheiratetes Brüderpaar, das ausserhalb von Holt eine Farm bewirtschaftet, als Gastgeber zu gewinnen. Raymond und Harold, wortkarg und völlig ungewohnt im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht, überlassen Victoria das Zimmer ihrer früh verstorbenen Eltern. Sie indessen bringt den unordentlichen Haushalt der beiden Junggesellen in Schwung, putzt und kocht, sorgt für eine gemütliche Atmosphäre und gewinnt die verstohlene Zuneigung der Brüder.

Victorias Freund Dwayne, der sie geschwängert hat, taucht unversehens auf und überredet sie dazu, mit ihm in Denver zu leben und trotz der Schwangerschaft Drogen und Alkohol zu konsumieren. Verzweifelt bricht Victoria nach Wochen aus, voller Angst um das bedrohte Leben ihres werdenden Kindes, und kehrt heimlich nach Holt zurück. Sie bittet die Brüder um Entschuldigung für den überstürzten Weggang, doch Harold und Raymond sind froh über ihre Rückkehr.

Als die Wehen einsetzen, bringen sie Victoria ins Spital. Allerdings verzögert sich die Geburt, doch die beiden Brüder «sassen auf ihren Stühlen an der Wand neben dem Bett und sorgten sich um sie, mehr, als sie sich in den letzten fünfzig Jahren jemals um etwas gesorgt hatten, liessen sie nicht aus den Augen und blieben bis in die Nacht hinein bei ihr».

Allerdings muss Harold während der Wartezeit auf die Farm zurückfahren und das Vieh füttern, doch Raymond harrt bei Victoria aus. Er darf nach der Geburt das Töchterchen sehen und es in den Armen halten. «Ach, das kann ich doch nicht», meint er, «ich will nichts kaputtmachen.» Als Raymond das Baby schliesslich nimmt, hält er es sich ängstlich vor sein altes Gesicht und ist fassungslos:

«‹Mein Gott», sagte er nach einer Weile. Die Augen des Babys sahen ihn an, ohne zu blinzeln. ‹Du meine Güte. Allmächtiger.›»

Ist das nicht ein Nachklang der Weihnachtsszene? Es ereignet sich das Wunder der Geburt, worüber sich die Herzen öffnen. Selbst die Hirten auf dem Feld fehlen nicht, denn jetzt trifft auch Harold ein, der «den Geruch von frischer Luft und Vieh und Schweiss» mitbringt, sich daher «nicht besonders sauber fühlt». Auch er nimmt das Baby auf den Arm und ist so sprachlos wie sein Bruder, als ihn das Mädchen unverwandt anschaut: «Also nein», stammelt er, «also nein.»

Victorias Geschichte bildet einen der Erzählstränge in Kent Harufs Roman, der sich in die Tradition der literarischen Stadtchronik einreiht (vgl. Thornton Wilder, «Our little town»). Doch die wundersame Wendung darf nicht dazu verführen, den Autor als Darsteller einer Stadtidylle zu betrachten. Die anderen Erzählschichten decken oft Abgründe der Bosheit auf, Grausamkeiten gegenüber Schwächeren, schwierige Beziehungsprobleme. Umso mehr leuchtet Victorias Geschichte mitten im Mief und Mittelmass dieser Kleinstadt.

Sechs Romane hat der aus Colorado stammende und als Lehrer tätige Kent Haruf den Bewohner:innen Holts gewidmet, lauter Texte in einer ungekünstelten, lakonischen Sprache. Er holt die Menschen aus einem unscheinbaren Alltag heraus und zeigt Verständnis für ihre Schwächen, mehr noch: Er, der Sohn eines methodistischen Pfarrers, liebt sie und setzt mit dieser Einstellung ein Grundanliegen seiner religiösen Herkunft literarisch um.

Mehrere Auszeichnungen ehrten sein Schreiben, dem er sich täglich diszipliniert in seinem Gartenhaus widmete. Sein letzter Roman, «Unsere Seelen bei Nacht» (Deutsch: 2017), der verhalten vom Glück einer späten Liebe und den gesellschaftlichen Ressentiments erzählt, wurde mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Kein Zweifel: Kent Haruf war für mich eine der lohnenden Entdeckungen in der Bücherlandschaft der letzten Jahre.
 

Kent Haruf: Lied der Weite. Diogenes, Zürich, 2018.

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