Das Register der Solothurner Chororgel. Foto: Benjamin Guélat.

Mit Pfeifen und Gebläse zu himmlischen Klängen

Die Orgel ist in Deutschland «Instrument des Jahres 2021»

Die Landesmusikräte Deutschlands haben die Orgel zum «Instrument des Jahres 2021» gekürt. 2017 hat die UNESCO Orgelmusik und Orgelbau zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt. So erhält die Königin der Instrumente im ganzen deutschsprachigen Raum mediale Aufmerksamkeit. Auch in der Schweiz hat Orgelkultur Tradition – die älteste spielbare Orgel der Welt steht in Sitten.

Von Benjamin Guélat, Domorganist Solothurn

Heute gilt die Orgel als das Kircheninstrument schlechthin. Ihre Geschichte ist älter als die des Christentums. Erfunden wurde die Orgel im 3. Jahrhundert v. Chr. durch Ktesibios, einem Griechen aus Alexandrien. Das «Hydraulos» (buchstäblich übersetzt: «Wasser-Flöte» oder «Wasserorgel») war in der antiken Welt ein rein weltliches Instrument, das unter anderem beim kaiserlichen Zeremoniell oder bei römischen Arenakämpfen Einsatz fand.

In der christlichen Liturgie war lange keine Instrumentalmusik zugelassen. Erst im Mittelalter wurde die Orgel in Kirchen eingeführt und etablierte sich allmählich als Kircheninstrument. Heute heisst es für die katholische Kirche: «Die Pfeifenorgel soll in der lateinischen Kirche als traditionelles Musikinstrument in hohen Ehren gehalten werden; denn ihr Klang vermag den Glanz der kirchlichen Zeremonien wunderbar zu steigern und die Herzen mächtig zu Gott und zum Himmel emporzuheben» (Sacrosanctum Concilium, VI, 120).

Was ist aber eine Orgel?

Wir reden hier von einem Tasteninstrument, dessen Töne von Pfeifen erzeugt werden; ein Gebläse (heute elektrisch, früher von «Calcanten» oder «Bälgetretern» angetrieben) liefert der Pfeife oder den Pfeifen den «Orgelwind», wenn die entsprechende Taste von der Organistin oder dem Organisten betätigt wird. Die Pfeifenorgel, von der der obige Text aus dem zweiten vatikanischen Konzil spricht, muss also diese drei Elemente haben: Pfeifen, Gebläse, Tastatur.

Die Wasserorgel von Ktesibios entsprach dieser Definition. Das Wasser sorgte in diesem Instrument für einen gleichmässigen Luftdruck; später erfüllten Bälge diese Funktion. In der Antike und im Mittelalter waren Orgeln meist kleine Instrumente, zum Teil konnten sie sogar an einer Hand gehalten werden («Portativ»).

Zunehmende Klangmöglichkeiten und Grössenwahn

In der Renaissance und in der Barockzeit führten Neuerungen wie die Orgelregister (denn die gotische Orgel kannte im Prinzip nur eine Klangfarbe, das «Blockwerk»), die Mehrmanualigkeit und das Pedal dazu, dass sich die Orgel zu einer immer grösseren Maschine mit zunehmenden Klangmöglichkeiten entwickelte. Vor der industriellen Revolution galt die Orgel als die grösste und komplizierteste Maschine überhaupt. Immerhin bedeutet das griechische Wort «organon», aus dem «Orgel» stammt, «Instrument» oder «Maschine». Wenn man sich die damalige Faszination für das technisch komplexe, kolossale und klangmächtige Instrument vorstellen will, wäre heute etwa ein Flugzeug oder ein Raumschiff die Entsprechung.

Mit der Industrialisierung kamen dann noch radikalere und schnellere Neuerungen in den Orgelbau. Dank pneumatischer und später elektrischer Steuerungssysteme wurden die Spieltrakturen leichtgängiger, und dies unabhängig von den Dimensionen des Instruments. Im Bestreben, das moderne, für das Klangideal des beginnenden 19. Jahrhunderts massgebende Symphonieorchester nachzuahmen, gar zu übertreffen, entstanden riesige Instrumente. Extreme Beispiele des Grössenwahns findet man vor allem in der neuen Welt. In der Schweiz gilt die Orgel der Klosterkirche Engelberg mit 137 Registern und 9097 Pfeifen als die grösste.

Nach der symphonischen Ära des Orgelbaus entdeckte man nach und nach die Vorzüge der historischen Bauweise wieder. Parallel zur Wiederbelebung der alten Musik und der historischen Aufführungspraxis galten nur noch mechanische, nach Vorbildern des Barocks gebaute Orgeln als würdige Musikinstrumente. Die ideologischen Debatten, was Orgel und Orgelmusik sein darf oder soll, die in den letzten Jahrzehnten leidenschaftlich geführt wurden, scheinen jetzt zur Vergangenheit zu gehören. Heute freut man sich auf die Vielfalt der Orgeltypen, die wir allesamt geniessen können.

Orgel und Kirche

In der vorreformatorischen Zeit sollte Orgelmusik zur Feierlichkeit der Liturgie beitragen. Die Begleitfunktion, wie wir sie heute für den Gemeindegesang kennen, kam erst viel später. Der unbegleitet gesungene gregorianische Gesang wechselte sich mit sehr kurzen Orgelstücken ab, die somit ganze Teile des liturgischen Textes durch Instrumentalmusik ersetzten: die Alternatimpraxis war sozusagen ein Trick, um Orgelmusik in obligate Teile der Liturgie hineinzuschmuggeln. Zeit für ausgedehntes Orgelspiel fand sich vor allem zum feierlichen Offertorium, oder zu den stillen Messen: während der Priester die Messe leise las, durfte die Orgel mehr oder weniger unabhängig vom liturgischen Geschehen spielen.

Als die Reformation begann, war die Orgel ein Symbol für den päpstlichen Pomp der römischen Kirche. Die Reformatoren Calvin und Zwingli verboten Orgelmusik im Gottesdienst. So wurden in den reformierten Gebieten der Schweiz alle Orgeln entfernt. Die Berner mussten bis zum 18. Jahrhundert, die armen Zürcher sogar noch ein Jahrhundert länger warten, bis Orgeln in ihre Kirchen wieder eingeführt wurden. Umso grösser scheint dann der Hunger nach Orgelklängen gewesen zu sein, wenn man sich die hiesigen vielen reformierten Kirchenbauten anschaut, wo eine monumentale Orgel an prominenter Stelle über der Pfarrerkanzel thront.

Nicht nur in Kirchen

Dass es auch ausserhalb von Kirchen Orgeln gibt, war heuer vielfach in der Presse zu lesen, anlässlich der Einweihungen neugebauter Orgeln in zwei bedeutenden Konzerthäusern der Schweiz: Stadtcasino Basel und Tonhalle Zürich. Auch Solothurn hat seine Konzertsaalorgel; nur wartet sie, nach mehr als 40 Jahren aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden, denn seitdem das Kabel zum Spieltisch abgeschnitten und dieser in den Keller verlegt wurde, ist sie nicht mehr spielbar …

Ein weiterer, besonderer Höhepunkt der Geschichte der «weltlichen» Orgel ist die Tradition der Kinoorgeln. In der kurzen Ära des Stummfilms entstanden, wird sie vor allem in England und Amerika bis heute gepflegt. In der Schweiz kann man in Genf bzw. in St. Gallen authentische Orgeln der Firma Wurlitzer bewundern, die früher in Kinosälen in London bzw. in Chicago ihren Dienst geleistet haben.

Die Zukunft der Orgelkultur

In unserem wohlhabenden Land sind dank dafür gut funktionierenden Institutionen die meisten Instrumente in ausgezeichnetem materiellem Zustand, wahrscheinlich wie noch nie. Dass Orgelmusik keineswegs «unzeitgemäss» ist und Menschen immer noch begeistern kann, beweisen die vielerorts sehr gut besuchten Orgelkonzerte. Wie sieht es aber bei Organistinnen und Organisten aus? Um die Gründe zu besprechen, die unseren nicht systemrelevanten Beruf schwierig machen, bleibt hier kein Platz übrig. Tatsache ist, dass aktuell ein ernsthaftes Nachwuchsproblem besteht. Wenn ich aber um mich sehe, mit welcher Hingabe, Überzeugung und Resilienz Kolleginnen und Kollegen ihre Energie, Zeit und Fachwissen dafür einsetzen, dass Orgelkultur lebt und für die nächsten Generationen erhalten bleibt, stimmt es mich zuversichtlich.

Erstpublikation im Kirchenblatt des Kantons Solothurn

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