Diskutieren beim Podium über Leben und Sterben: Ärztin Annette Wochner, Filmemacher Jan Gassmann und Inselspitalseelsorger Patrick Schafer (v.l.n.r.). Foto: Vera Rüttimann

«Ich bleibe nicht beim Sterben, ich gehe weiter»

Podium über den Tod und das Leben

Im Rahmen der Filmreihe «Voller Leben» zeigte das Kino Rex in Bern unlängst den Film «Chrigu». In diesem Film hält Jan Gassmann das Sterben seines besten Freundes Christian Ziörjen fest, der 2005 an Krebs starb. Auf dem Podium diskutierte er anschliessend mit der Ärztin Annette Wochner und dem katholischen Seelsorger Patrick Schafer.

Von Vera Rüttimann

Das Leben liegt offen vor ihm. Mit seinem Freund Jan rennt er barfuss in Indien einen Strand entlang. Es regnet. Sie lachen und feixen. Schnitt. Grossaufnahme auf einen tropfenden Infusionsbeutel. Schläuche stecken in Christians Brust. Er ist 21, als er Halsschmerzen bekommt. Er kann seinen Kopf nicht mehr in den Nacken legen. Seine Freunde denken erst, er schauspielere ihnen etwas vor. Bis er ins Spital muss. Dort wird bei ihm ein Ewing-Sarkom diagnostiziert. Es folgen: Chemotherapie, Überlebenskampf, dann der Tod. Die Leute weinen während des Films in ihre Masken.

Harte Kontraste

Viele Szenen aus dem Dokumentarfilm «Chrigu» des Filmemachers Jan Gassmann aus dem Jahr 2007 wirken lange nach. Im Kino sitzt auch der Filmemacher selbst. Er sieht sein Werk erstmals seit 15 Jahren wieder in einem Kino. Er erinnert sich an Christian (Chrigu), der ein Kind von Aussteigern auf einem Bauernhof im Jura war. «Was wäre aus ihm geworden? Diese Frage ging mir heute durch den Kopf.»

Er lernt Chrigu, der schon früh zu filmen begann, bei der «Video Gäng» von Tele-Züri kennen. Als er an Krebs erkrankt, bittet er seinen Freund Jan, ihn filmisch zu begleiten. Drei Jahre lang, viele Stunden davon in seinem Spitalzimmer, begleitet er sein Ringen mit dem Tod. Im Film lernen wir auch seine Familie und die Mitglieder der Hip-Hop Band «Mundartisten» kennen.

Der Film schneidet die Clips mit starken Kontrasten aneinander. Hier die wilden Partys in ihrer WG, dort die wortkargen Fahrten vom Spital nach Hause. Hier der junge Chrigu, der mit seinen Freunden übers Kiffen und Frauen redet, dort die Stille im Spitalzimmer.

Kein Requiem

Es gibt Szenen, die drücken einen in den Sessel: Chemo, Schläuche, Rückfahrt ins Elternhaus. Endlich wieder zu Hause. Chrigu sagt in die Kamera: «Wenn ich einen Rückfall habe, dann bringe ich mich um». Und dann kommt er, der Rückfall. Chrigu aber hat sich nicht umgebracht. Er hat mit seinem Freund Jan weitergedreht. Bis zum Tod.

Und doch handelt dieser Film nicht vom Tod, sondern vom Leben. Dieser Film handelt von einem ungewöhnlichen jungen Mann, den man sofort mag. Jan Gassmann sagt über ihn: «Er war niemanden, der sich beklagt hat und in Selbstmitleid versunken ist.» Christian Ziörjen sei eine sehr einnehmende Persönlichkeit gewesen. Selbst körperlich er sei stark gewesen. «Ein Arzt sagte einmal über ihn: Ein starker Körper, ein starker Krebs.»

Patrick Schafer fragt Jan Gassmann, warum Chrigu so offen über seinen Sterbeprozess reden konnte. Der Filmemacher sagt: «Wenn jemand mit dem Tod konfrontiert wird, gibt es keinen Grund, eine Maske zu tragen. Er war extrem ehrlich, direkt und mit einem schwarzen Humor gesegnet.» Gassmann spricht die Szene mit der «Chemover»-Party an. Im Film sieht man einen Einladungsflyer mit einem Krebs, der im Bierglas ertrinkt.

Die Realität war oft hart genug. Jan Gasmann schildert auf der Bühne, wie er und seine Freunde während dieses Sterbeprozesses innerlich gewachsen seien. «Die Leichtigkeit war weg. Wir mussten plötzlich lernen, anders miteinander zu reden.»

Für Beobachter ist «Chrigu» auch das Dokument einer Sterbebegleitung. So auch für Annette Wochner. Die Ärztin sagt beim Podium: «Ich finde es eindrücklich, als Chrigu sagt: Ich bin hier jetzt eine geschlossene Akte. Das ist dann der Zeitpunkt, wo wir von der Palliativ-Care involviert werden.» Vor kurzem habe die Palliativ-Station des Inselspitals das 10-Jahres-Jubiläum gefeiert.

Suche nach Transzendenz

Beim Podium ist auch Chrigus Einstellung zu Religion ein Thema. Er sei, so Jan Gassmann, in einem atheistischen Elternhaus aufgewachsen. In den Monaten vor seinem Tod habe ihn das Thema Religion aber immer mehr beschäftigt. «Ich bin mit ihm mal in einen Gottesdienst und in eine buddhistische Zeremonie. Er hätte sich gerne noch mehr mit Religion auseinandergesetzt.»

Dass häufig bei Sterbenden spirituelle Fragen hochkommen, weiss Patrick Schafer aus seiner Arbeit als Spitalseelsorger am Inselspital: «Sie suchen nach einer Transzendenz. Einer Kraft, die sie nährt und auf ihrem Weg begleitet.» Berührt habe ihn die Stelle im Film, als Chrigu sagt: «Ich habe eine Schwelle übertreten. Eine Tür ist aufgegangen, und ich entdeckte ein neues Feld, was mich offener macht.»

Moderne Passionsgeschichte

Als Patrick Schafer noch in den Pfarreien in Bern-West gearbeitet hat, hat er den Film «Chrigu» in der Firmvorbereitung mit seinen Firmanden angeschaut. Oft zu Ostern. «Es geht um Sterben, Tod und Auferstehung. Für mich ist dieser Film eine moderne Passionsgeschichte», sagt Schafer. «Chrigu», sagt er auf dem Podium, «hat selbst gesagt: Ich bleibe nicht beim Sterben, ich gehe weiter.» Schafer zitiert weiter Chrigus Mutter, die am Schluss des Filmes sagt: «Chrigu geht zurück ins Licht. In diesen Fluss Richtung Osten. In den Inn.»

Das Licht, das stärker ist als das Dunkle, das sei, so Schafer, eine zentrale Botschaft dieses Films. Es sei Chrigus Vermächtnis. Im Kopf haften geblieben sei ihm auch diese Szene, wo Chrigu sagt: «Ich komme ins Spitalzimmer und es ist licht-erfüllt.» Ebenso sein Satz «Mein Leben ist nicht mehr das Thema, aber deines und das Leben aller andern – lebt es!» berühre ihn immer wieder. Patrick Schafer resümiert: «Es gibt wohl viele Leute, die aus dem Kino kommen und sich sagen: Jetzt gehe ich hinaus – und lebe mein Leben.»

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