Krebskranke Menschen und ihre Angehörigen müssen sich auf Therapien, körperliche Einschränkungen und eine neue Lebenssituation einstellen. Alexander Wünsch, Leitender Psychoonkologe am Inselspital Bern, zieht in seinen Gesprächen psychosoziale Aspekte mit ein, um Betroffene ganzheitlich zu unterstützen.
Interview: Anouk Hiedl
«pfarrblatt»: Welche Anliegen äussern Ihre Patient:innen?
Alexander Wünsch: Am Anfang ist da eine diffuse Belastung, die sich in Schlafproblemen, gedrückter Stimmung oder innerer Anspannung zeigen kann. Praktisch alle haben Angst vor dem, was kommt. Manche sprechen über eine mühsame Behandlung oder ihre Nebenwirkungen wie Erschöpfung.
Viele trauern um Dinge, die nach der Diagnose nicht mehr möglich sind, oder sorgen sich um ihre Angehörigen. Nach einem medizinischen Überblick beleuchten wir die psychosozialen Faktoren der Situation: Was belastet jetzt? Was muss man akzeptieren oder aushalten? Was kann man verändern? Wo kann man Entlastung schaffen?
Worüber reden Sie mit Menschen, die sterben werden?
Es gibt verschiedene Trauerphasen. Manchmal ist der Wunsch da, Dinge auf den Weg zu bringen, das eigene Ableben zu gestalten oder Angehörige miteinzubeziehen. Man muss nicht immer viele Worte finden. Eine Patientin wünschte sich nach langer Krankheit ein Paargespräch. Als ich mit ihrem Mann am Krankenbett sass, sagte sie ganz einfach und klar: «Des is a b’sondere Liab.» Zwei Tage später ist sie verstorben.
Wie tabu ist der Tod? Sprechen Sie dieses Thema direkt an?
Einer meiner Dozenten bezeichnete Psychoonkolog:innen als «Psychologen, die keine Angst haben, über den Tod und das Sterben zu sprechen». Es ist auch professionell schwierig, wie man sich darüber äussert, doch ja, wir wollen unsere Patient:innen ermutigen, darüber zu reden. Die Angst wird dann kleiner und der Weg dorthin klarer.
«Was-wäre-wenn»-Fragen helfen. Was, wenn die Erkrankung fortschreitet? Will man noch etwas organisieren? Von wem will man sich verabschieden? Es braucht Mut, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Will jemand nicht darüber sprechen, akzeptiere ich das.
Wie gehen Sie mit der Angst nach einer Krebsdiagnose um?
Angst geht stets mit einem Schatten einher, nämlich mit dem, sie zu vermeiden. So wird sie grösser. Um sich ihr zu stellen, kann es hilfreich sein, der Angst einen Namen zu geben. So sprechen wir darüber, versuchen, sie begreiflicher werden zu lassen und sie zu Ende zu denken: Angenommen, Sie kommen in diesen Zustand, was dann? Und dann? Die Angst wird so klarer, man kann sie verstehen und ihr ins Auge schauen. Mit der Zeit wird sie dann weniger.
Wenn Patient:innen das wünschen, bespreche ich auch den bestmöglichen und den schlimmsten Fall. Dadurch wird Patient:innen deutlicher, was ihnen wirklich wichtig ist. Manche möchten ihre Enkelkinder sehen, bestimmte Personen treffen oder einen Konflikt lösen. Einige machen es mit sich aus, während andere uns oder Seelsorgende aufsuchen.
Wirken Sie immer darauf hin, dass Patient:innen ihre Krankheit akzeptieren?
So gut es geht. Doch was heisst Akzeptanz? Es gilt auszubalancieren, was man aushalten muss oder verändern kann. Setzt man sich mit Angst auseinander und lässt Trauer zu, kann man sich vorbereiten und seine Angehörigen auch.
Ein todkranker Vater wusste, dass er nicht miterleben wird, wie sein Sohn erwachsen wird. Konkreter nachgefragt, wünschte er sich zu sehen, wie sein Sohn eine Wohnung bezieht und sein Leben gestaltet. Um seinem Sohn jetzt etwas mitgeben zu können, baute er ihm ein Baumhaus. Das hat mich sehr berührt.
Was unterscheidet Sie von Spitalseelsorgenden?
Da sehe ich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die Seelsorge und wir bauen über Kommunikation Kontakt auf und interessieren uns für den Menschen in seiner existenziellen Dimension. Die Seelsorge umfasst Spiritualität, arbeitet mit Ritualen und findet vielleicht leichter Antworten als ich. Ich lasse Glaubensfragen zu, gebe ihnen Raum, kann darauf aber keine Antworten geben.
Stattdessen versuche ich, diese mit meinem Gegenüber zu finden. Eine Patientin konnte sich zum Beispiel übers Gebet beruhigen, Kraft finden und Dinge an eine andere Ebene abgeben. Das habe ich positiv verstärkt. Spiritualität kann eine wichtige Ressource sein. Wollen Patient:innen nichts mit mir als Psychologen zu tun haben, schicke ich sie zur Spitalseelsorge und umgekehrt.
Was fordert Sie heraus?
Das Arbeitssetting. In einer Praxis sitzen einem Menschen gegenüber, vieles ist besser planbar. Im Spital gehen wir an ihr Krankenbett. Hier geht es viel stärker darum, was die aktuelle Situation für Menschen bedeutet und wie sie ihr Leben danach ausrichten wollen. Da ich nicht weiss, wie lange und wie oft ich Patient:innen sehen werde, versuche ich, aus den Möglichkeiten das Passende für den Moment herauszusuchen.
Für wen werden Sie gerufen?
Wir sind für alle erwachsenen Krebspatient:innen da, ob heilbar oder palliativ krank. Viele Krebsarten können gut behandelt werden. Ziel ist es, die Lebensqualität der Patient:innen zu steigern. Nach einer Diagnose, bei interdisziplinären Visiten und vor dem Austritt nach Hause werden wir ans Krankenbett gerufen. Oder ärztliche Kolleg:innen sehen, dass Patient:innen oder deren Angehörige in der Sprechstunde belastet sind.
Viele können wegen körperlicher Beschwerden nicht mehr an ihren bisherigen Alltag anknüpfen oder wollen sich nicht mehr vom Alltag und Arbeitsprozessen auffressen lassen. Manche priorisieren ihre Werte neu, nehmen sich bewusster mehr Zeit für sich und andere, arbeiten weniger oder erleben die Natur intensiver.
Spielt es je nach Krebsart eine Rolle, dass Sie ein Mann sind?
Es kann eine Rolle spielen. Wer nicht zu mir kommen möchte, kommt nicht. Eine Frau, die eine Brust verloren hat, spricht vielleicht mit mir darüber. Das kann entlasten und das spätere Gespräch mit ihrem Ehemann erleichtern. Männer nehmen unseren Dienst weniger in Anspruch als Frauen. Studienerkenntnisse haben gezeigt, dass viele Männer konkrete Informationen oder Aktivitäten brauchen, um dann leichter über ihre Krankheit zu sprechen. Frauen finden im Gespräch zum Thema.
Wie gehen Sie mit den Belastungen Ihrer Arbeit um?
Wenn ich in eine Lebensgeschichte eintauche und ein naher Bezug entsteht, freue ich mich je nach Verlauf mit oder bin traurig. Im Team besprechen wir Fälle gemeinsam, und ich pflege Rituale. Manchmal zünde ich ein Kerzchen an, um innezuhalten, mich zu verabschieden und Traurigkeit zuzulassen.
Warum sind Sie Psychoonkologe geworden?
Fragen nach ganzheitlichem Menschsein und nach dem Sinn kommen in der Psychoonkologie am stärksten vor. Auch das unmittelbare Spitalsetting finde ich spannend. Die Patient:innen sind wegen der medizinischen Versorgung hier, meine Aufgabe ist ihre psychologische Unterstützung dabei. Bei anderen chronischen Erkrankungen gibt es das auch. In der Onkologie ist die Psychologie jedoch am weitesten integriert. Hier sind existenzielle Dinge am präsentesten, genauso wie die Motivation, eine Chemotherapie durchzuhalten und mit Nebenwirkungen, Ängsten oder Depression zurechtzukommen. Diese Vielseitigkeit spricht mich an.
Weitere Infos zur psychoonkologischen Betreuung am Inselspital Bern: www.onkologie.insel.ch (Rubrik: Unser Angebot, unterstützende Angebote, Psychoonkologie)