«Es gab keinen Gott in Auschwitz. Es gab keinen Gott in Treblinka.» Foto: Aline Zandona

«Ich will und darf es nicht vergessen»

Anlass zum Holocaust-Gedenktag.

 

78 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz schrumpft die Zahl der Überlebenden, die Zeugnis ablegen können. Auch wegen antisemitischer Übergriffe ist es wichtiger denn je, die Erinnerung an die Shoah* lebendig zu halten. Dies zeigt ein Gedenk-Anlass der israelischen Botschaft im Berner Neufeld Gymnaisum.

Annalena Müller, kath.ch

Björn Westerström wohnt in der Nähe der Synagoge von Malmö. Vor ein paar Jahren traf er dort auf einen ehemaligen Schüler. Auf die Frage, was den jungen Mann in diese Gegend bringe, weicht dieser zunächst aus. Schliesslich sagt er: «Ich bin Jude.» Sichtlich bewegt berichtet Westerström, dass der Schüler seinen Glauben in der Schule stets verheimlicht habe – aus Angst, seine Freunde zu verlieren. Von dieser und anderen Fällen des alltäglichen Antisemitismus in Malmö spricht der Lehrer gestern Abend vor Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Religion und Gesellschaft. Anlass ist der Holocaust-Gedenktag. Die israelische Botschaft hat ins Berner Gymnasium Neufeld eingeladen.

Antisemitismus auf dem Vormarsch

Die Zahl antisemitisch motivierter Vorfälle steigt in vielen Ländern. Eines dieser Länder ist Schweden, das 2023 den Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) innehat. Laut Sofia Kalberg, Vertreterin der schwedischen Botschaft, war Malmö lange Zufluchtsort für vertriebene Juden aus Deutschland und dem kommunistischen Polen. «Doch heute verlassen viele Juden Malmö wegen des zunehmenden Antisemitismus.» Deshalb seien Initiativen wichtig, die jüdisches Leben und Kultur in Malmö sichtbar machten. Initiativen wie die von Björn Westerström. Westerström ist nicht nur Lehrer, sondern auch Sekretär für pädagogische Entwicklung. Und er kämpft gegen antisemitische Ressentiments in seiner Heimat, indem er Lehrmaterialien für Schulen zu jüdischer Kultur heute und zum Holocaust entwickelt.

Zeugnis ablegen – heute und morgen

Die zentrale Frage des Abends ist, wie die kollektive Erinnerung an die Shoah bewahrt werden kann, wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt. Antworten geben unter anderem Werner Guter (86) und Naomi Wyler (21). Guter wurde 1937 in Stockholm geboren, wohin seine Eltern vor den Nazis geflohen waren. Er berichtet von seiner Kindheit in Armut, von den Familienmitgliedern, denen die Flucht nicht gelungen ist und die vielen Einflüsse, welche die Shoah bis heute auf sein Leben hat. «Es gab keinen Gott in Auschwitz. Es gab keinen Gott in Treblinka. Für mich gibt es nirgendwo einen Gott. Aber dennoch betrachte ich mich als sehr jüdisch», sagt Guter. Und daher legt er Zeugnis ab. Gerade hat Guter mit seiner Cousine, Ruth Friedländer, ein Buch veröffentlicht, das die Geschichte ihrer Familien anhand tausender Briefe dokumentiert und für künftige Generationen zugänglich macht («Out of Berlin. The Friedländer and Guter Families 1933-1945»). Auch Naomi Wyler legt Zeugnis ab. Die junge Zürcherin spricht mit Schülerinnen und Schülern über die Shoah. Ihnen erzählt sie die Geschichte ihres Grossvaters, der mit viel Glück als kleiner Junge den Gaskammern von Auschwitz entkam. So will sie einen Beitrag leisten, dass die Erinnerung weiterlebt.

Die Erinnerung weitergeben an jüngere Generationen

Bewegende Zeugnisse wie die von Guter und Wyler lassen den Vertreter der deutschen Botschaft, Fried Nielsen, die Bedeutung der kollektiven Erinnerung unterstreichen. «Ich will und darf es nicht vergessen. Ich will die Erinnerung an den Holocaust weitertragen», sagt er. Die israelische Botschafterin Ifa Reshef und Nationalratspräsident Martin Candinas (Mitte) unterstreichen in ihren Ansprachen die Rolle der Schulen für die Weitergabe der Erinnerung an die Shoah. Reshef sagt, dass das Gymnasium Neufeld bewusst als Ort für die diesjährige Gedenkveranstaltung ausgewählt wurde. «Der Ort symbolisiert das Thema, auf das wir uns in diesem Jahr konzentrieren wollen – nämlich neue Wege und pädagogische Methoden zu finden, um die kommenden Generationen den Holocaust näher zu bringen.»

In der Schweiz ist offener Antisemitismus selten

Im Gespräch mit kath.ch äusserst sich Jehuda Spielman, FDP-Gemeinderat aus Zürich und selbst Nachfahre von Holocaustüberlebenden, zur Situation in der Schweiz. Spielman sieht die Gefahr, dass der Holocaust bald nur noch als eine «exotische Geschichte» verstanden werde. «Man darf nicht vergessen, dass es hier in Europa geschehen ist, wenige Kilometer entfernt.» Auch für ihn ist die Frage des Bewahrens und Vermittelns der kollektiven Erinnerung daher wichtig. Im Vergleich zu dem am Abend im Zentrum stehenden Schweden zeigt sich Spielman aber optimistisch. Der orthodoxe Jude erlebt selbst «sehr, sehr wenig Antisemitismus». In der Schweiz sei Hass vor allem in den sozialen Medien ein Problem – dort aber richte er sich gegen alle Minderheiten und nicht spezifisch gegen Jüdinnen und Juden.

Unter den Anwesenden war auch Vatikan-Botschafter Nuntius Martin Krebs. Er hatte keinen offiziellen Part. Doch als Deutscher, der aus dem Bistum Essen stammt und somit in der einstigen Herzkammer von Hitlers Waffenindustrie aufgewachsen ist, dürfte auch ihn der Abend bewegt haben.
 

* Der nationalsozialistische Völkermord an 5,6 bis 6,3 Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs.
Der 27. Januar ist der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust (International Holocaust Remembrance Day). Der Tag wurde im Jahr 2005 von den Vereinten Nationen zum Gedenken an den Holocaust und den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau eingeführt.

 

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