«Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf.» Ilse Aichinger. Foto: Klaus Morgenstern, Keystone, 1996

Ilse Aichinger – behutsame Rebellin

Zum 100. Geburtstag der österreichischen Autorin (1921–2016)

«Träume sind wachsamer als Taten.» Diese Gewissheit prägt das Werk Ilse Aichingers: ihre Gedichte und Erzählungen, Dialoge und Hörspiele, vor allem aber ihren einzigen Roman «Die grössere Hoffnung» (1948), eines der bedeutendsten Werke nach 1945.

Von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Der Satz richtet sich gegen alle, die einzig im pragmatischen Handeln den Sinn ihrer Existenz erblicken. Ilse Aichinger ist eine Rebellin mit subversivem Zündstoff, aber sie will «behutsam kämpfen», wie sie in «Kleist, Moos, Fasane» sagt. Dieser Band enthält Notate, die sich zum Buch der Weisheit fügen. Sie sprechen vom Schreiben, von der Bedrohung, der Liebe: «Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf.» Was hier sanft anspielt, das Paradox als Denkstruktur, entfaltet die Dichterin anderswo deutlicher: «Alles hört auf, indem es sich ereignet.» Oder: «Sich erinnern: sich und das Erinnerte für das Vergessen bereit machen.»

Kriegsschicksal

Im Krieg ist die «Halbjüdin» Ilse Aichinger, Tochter des Lehrers Ludwig Aichinger und der jüdischen Ärztin Berta Kremer aus Lemberg, der Furcht vor Verhaftung und Deportation ausgeliefert. Nach der Scheidung der Eltern, 1926, wächst sie in Klosterschulen und bei der Grossmutter auf. Noch im Juli 1939 wird die Zwillingsschwester Helga (1921-2018) mit einem Jugendtransport nach England geschickt. Aber der Kriegsausbruch verhindert die Ausreise der übrigen Familie. Sofort entziehen die Nazis Ilses Mutter die Praxis und verpflichten die beiden Frauen zur Zwangsarbeit in einer Lederfabrik. Die Grossmutter, deren Vater im Habsburgerreich Stationsvorstand von Auschwitz gewesen ist, wird Richtung Minsk deportiert. Das Bild der alten Frau im Lastwagen schmerzt die Enkelin lebenslang.

In keinem anderen Werk hat Ilse Aichinger diese Jahre so eindringlich erörtert wie im Roman «Die grössere Hoffnung», denn die kleine Ellen trägt ihre eigenen Ängste und Träume in sich. Als die Medizinstudentin zu schreiben beginnt, ist dies ein Widerstehen im Wort: «Ihre Schuld war, geboren zu sein, ihre Angst war, getötet, und ihre Hoffnung, geliebt zu werden.» Es ist trotz allem ein Buch der Hoffnung, dessen Autorin vom Geist der «Weissen Rose» beseelt ist. Aber so märchenhaft der Ton oft klingt: Die Kinder dieses Romans erkennen, dass ihr Leben auf dem Spiel steht.

«Jetzt wussten sie längst, dass man unrecht behält, solange man auf dieser Welt sein Recht sucht. Sie hatten gelernt, Möbelstücke zu verkaufen und Fusstritte hinzunehmen, ohne das Gesicht zu verziehen. Sie hatten durch die Dachluke die Tempel brennen gesehen. Aber tags darauf war der Himmel wieder blau gewesen.»

«Fräulein Kafka»

Man hat sie als Nachfahrin Kafkas bezeichnet, sie «Fräulein Kafka» genannt. Denn auch sie verzichtet wie der von ihr hoch geschätzte Dichter auf Zusammenhänge und verschreibt sich dem Paradox. Ihre Erzählungen muten wie Gleichnisse an, angesiedelt in der Raum- und Zeitlosigkeit, und sie lieben das surreale Ereignis. In der Spiegelgeschichte läuft das Leben einer Toten nochmals ab, aber diesmal vom Tod zur Geburt hin. So fällt der Tod mit der Geburt zusammen; das Leben dazwischen ist ein Traum. Manche dieser Prosatexte sind durchaus amüsant. In «Nachricht vom Tag» ist der Tag in Rotterdam zu Hause. Dort verbringt er seine Frühzeit, erfindet seine ersten Witze. Einmal versucht die Sonne, den Tag über St. Helena abzuschütteln, aber dieser weicht nach Mecklenburg aus. Doch darf der Schabernack nicht über den Ernst hinwegtäuschen. Dieser rührt aus einer grundlegenden Skepsis. Ilse Aichinger misstraut der Sprache, den Gesten, den grossen Gefühlen, dem Staat, den religiösen Vorstellungen. Die Schwierigkeit des richtigen Benennens taucht immer wieder in ihren Überlegungen auf und knüpft an die Sprachskepsis der Literatur nach 1945 an. Genauigkeit ist oberstes Gebot.

Ehe mit Günter Eich

1953 heiratet sie den deutschen Autor Günter Eich (1907-1972). Der Ehe entstammen die Tochter Mirjam und der Sohn Clemens. In den letzten Lebensjahren lebt sie verborgen mitten in Wien, wechselt häufig das Domizil, weilt u. a. bei den Benediktinern im Schottenstift und geht bis viermal täglich ins Kino. «Diese Sucht, einfach wegzubleiben,» gesteht sie in «Kleist, Moos, Fasane». Noch immer kreist sie die Orte der Kindheit ein, «diesen Anfang, diese Flügel, diese Flüge». Gleichwohl ist „die Kindheit eine Form von Schweigen und auch der Tod...», sagt sie in der ORF-Sendung «Menschenbilder» (5. Januar 1986). Es sind seltsame Worte im Lärm einer Zeit, die das Schweigen verlernt hat.

 

Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Mit einer Nachbemerkung von Richard Reichensperger. S. Fischer Verlag: Frankfurt l996.
Ilse Aichinger: Die grössere Hoffnung, Roman. S. Fischer Verlag: Frankfurt l986.

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