Zuerst braucht es Leere. Was danach kommt, ist Geschenk. Foto: Pia Neuenschwander

In der Leere die Fülle finden

Fasten als lohnendes «Weniger ist mehr»

Eigentlich mag ich gar nicht fasten. Zu genüsslich ist ein feines Essen, und abnehmen möchte ich auch nicht. Und wenn ich faste, so habe ich früher mal festgestellt, werde ich langsamer und bei der Arbeit nicht so effizient. Während des Studiums war das noch zu verkraften, jetzt nicht mehr so gut.

Von Christine Vollmer

Und doch sehne ich mich zwischendurch in meinem so voll befrachteten Alltag regelrecht nach einem Verzicht, bei dem es nicht unbedingt ums Essen gehen muss. Die Begegnung mit vielen Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen, das Suchen nach tragfähigen Lösungen für Alltags- und Zukunftsfragen, die Organisation der Terminflut, Informationen auf etlichen Kanälen, auch Haushalt und Freizeitgestaltung – kurz, mit der Herausforderung, einen gefüllten Alltag zu bewältigen, bin ich nicht allein. Schon im Kindesalter beginnt diese in unserer Gesellschaft.

Bei allem, was wir täglich erleben und tun, wird es manchmal schwierig, die vielen Erfahrungen noch bewusst wahrzunehmen, sie zu verarbeiten und sie wertzuschätzen oder Schwieriges auch wieder loszulassen. Der Alltag läuft Gefahr, mehr an Quantität als an Qualität zu gewinnen.

Da fallen mir Situationen ein, in denen es genau umgekehrt war, Momente, in denen sozusagen nichts los war, die mich aber tief berührt haben: 2017 bin ich mit einer Gruppe fünf Tage quer durch die Anden von Argentinien nach Chile gewandert. Kein Handy funktionierte, kein Haus war in der Nähe. Aber die Intensität des blauen Himmels und der rötlichen Felsen oder des Rauschens von Wind und Wasser waren erfüllend.
Eine andere Situation war ein Gründonnerstag in unserer Kirche St. Josef in Köniz. Für den Gottesdienst am Abend war der Altar bereits mit einem langen weissen Tuch bedeckt. Davor stand ein Strauss mit rosaroten Tulpen. Das Sonnenlicht fiel in den Altarraum. Nichts war da ausser einem Tuch und ein paar Tulpen. Aber ich stand still vor dieser schlichten Pracht und habe dieses Bild bis heute nicht vergessen.

Wieder ein andermal sang ich im Chor im Berner Münster in einem Konzert. Der letzte Ton war gesungen. Niemand bewegte sich, ein Raum mit hunderten von Menschen hörte gemeinsam auf die Stille. Sie war gefüllt mit einem unhörbaren Klang, der alles verband.
Und dann mag ich auch immer wieder den Karsamstag. Das Drama der Karfreitagsliturgie ist vorbei. Der Jubel von Ostern ist noch nicht ausgebrochen. Diese Zwischenzeit, in der das Leben stillzustehen scheint, wirkt wohltuend und stärkend.

Ich mache also immer wieder, auch unverhofft, die Erfahrung, dass Momente, die äusserlich betrachtet leer, schlicht und öde aussehen, mich zu einer Fülle und Verbundenheit und Dichte führen, die mit all der sonstigen Dichte von Terminen und Informationen nicht vergleichbar sind.
Fasten, ob nun körperlich durch Verzicht auf Nahrung oder geistig-emotional durch Verzicht auf Kommunikation und Reize, ist also ein lohnendes Weniger an Quantität.

Warum fällt uns Fasten dann so schwer? Vermutlich liegt es daran, dass wir immer zuerst das, worauf wir verzichten, loslassen müssen, ohne an dieser Stelle automatisch etwas Anderes in die Hand zu bekommen. Zuerst braucht es Leere. Was danach kommt, ist Geschenk. Wir können nicht darüber verfügen. Wenn wir verzichten, können wir lediglich Raum dafür schaffen, um die Fülle des Lebens in uns und um uns wahrzunehmen. Aber das lohnt sich.


* Christine Vollmer ist Gemeindeleiterin der Pfarreien St. Josef Köniz und St. Michael Wabern

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