Jonathan Gardy zieht die Scham dem selbstgewissen Stolz der Vergangenheit vor. Foto: Pia Neuenschwander

«Kann man derzeit ohne Scham katholisch sein?»

Jonathan Gardys pastoraler Dienst in der katholischen Kirche - trotz allem

Während ein deutscher Kardinal seinen Rücktritt anbietet, lässt sich Jonathan Gardy für einen pastoralen Dienst in der Kirche beauftragen. Was bewegt ihn dazu? Ein persönlicher Essay.

Von Jonathan Gardy, Seelsorger in der Pfarrei Guthirt, Ostermundigen

Vor zwölf Jahren verliess ich das Gymnasium mit der Matu­ra in der Tasche. Ich konnte mir nichts Schöneres, Wichti­geres und Besseres denken, als Seelsorger zu werden. Meine persönlichen geistli­chen Erfahrungen waren stark und prägend; sie hatten mir eine ungeahnte Sinntiefe ge­zeigt, mich vormals fremden Menschen näher gebracht und mich Freiheit schmecken lassen. Glaube – das war kein Gedankengebäude, sondern ein offener Raum für Begeg­nungen mit dem Heiligen und Heilenden. Es drängte mich, einst anderen Menschen sol­che Erfahrungen möglich zu machen. Darum begann ich, Theologie zu studieren.

Wo ist das Heilige?

Vor einigen Wochen hat mir Bi­schof Felix meine Missio er­teilt. Damit bin ich nach ei­nem ausführlichen Universi­tätsstudium und der kirchli­chen Berufseinführung be­auftragt für den Dienst in meiner Pfarrei. Nun bin ich Seelsorger. Wo ist das Heilige?
«Im Moment sieht es so aus, als sei die Tal­fahrt der Kirche kaum aufzuhalten», schrieb vor kurzem der Generalvikar des Bistums Es­sen, Klaus Pfeffer, mit schonungsloser Ehrlich­keit. Ich fürchte, er hat Recht, und es wird noch eine Weile abwärts gehen. Gruppierungen, die während Jahrzehnten das Leben in der Pfarrei mitprägten, lösen sich mangels Nach­wuchs auf; das Interesse an Sonntagsgottes­dienst und Religionsunterricht schwindet zu­sehends; die persönliche Identifikation mit dem Christentum ist in jüngeren Generatio­nen selten geworden. Ich komme mir oft vor wie ein Sterbebegleiter und möchte doch viel lieber Geburtshelfer sein.

Früher galt die Kirche als vertrauenswürdig und den Menschen wohlwollend zugewandt. Inzwischen denken immer mehr Menschen in Köln und anderswo, dass es der Institution vor allem um sich selbst geht. Gründe dafür gibt es genügend: rein formaljuristische Gutach­ten, einfallslose Strukturreformen, die verwei­gerte Rezeption theologischer Erkenntnisse zum Beispiel in der Frauenfrage – die Liste liesse sich fortsetzen. Kann man derzeit ohne Scham katholisch sein? Wohl nicht. Vielleicht ist es besser so: Scham demütigt, und echte Demut macht es möglich, andere ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören – etwas, das in der Kirche neu zu lernen wäre.

Zustand der Kirche versus christliche Glaubenskraft

Ich ziehe also die Scham dem selbstgewissen Stolz vergan­gener Zeiten vor. Der Zustand der Kirche beschämt und be­elendet mich umso mehr, als ich von der unge­brochenen Kraft des christlichen Glaubens überzeugt bin. Und zum Glück gibt es sie nach wie vor: die Menschen und Orte in den Kir­chen, welche etwas von dieser Kraft erfahren lassen. Ich kenne Christ*innen, die ihren Mit­menschen hilfreich sind, ohne zu rechnen, was für sie dabei herausspringt. Ich begegne Män­nern und Frauen, die ihren über Jahre ge­wachsenen Schatz an spiritueller Weisheit grosszügig weitergeben. Und ich erlebe dann und wann Momente, an denen durchscheint, was Kirche eben auch sein kann: eine Gemein­schaft, die alle Unterschiede und Grenzen um­fasst und Platz hat für Menschen jeder Art. Für eine solche Kirche bin ich zu haben: eine, welche die Gleichwürdigkeit aller verkündet, sie selbst lebt und sie anmahnt in einer kälter gewordenen Welt.

Eine Kirche, welche so Räu­me dafür öffnet, dass Menschen ihre gottge­schenkte Würde erfahren, an sie glauben und für sie einstehen können. Wo nämlich Men­schen mit dieser Würde in Kontakt kommen, ist das Heilige und Heilende nah. Und ebenso das Verlangen nach Gerechtigkeit – für sich und andere. Solche Erfahrungen möglich zu machen, treibt mich immer noch an. Als Seelsorger bin ich ein Christ wie jeder an­dere. Ich bete, ich taste, ich suche nach Gott. Ich ringe mit meiner Sprache und freue mich über jedes neue, tragende Wort.

Ich versuche zu leben, was ich vom Evangelium verstanden habe. Und ich weiss: Andere Christ*innen hel­fen mir dabei. Darum lasse ich nicht von der verfassten Kirche und bin froh über alle, die zu ihr gehören. Mit anderen Christ*innen möch­te ich gemeinsam hinhören, was Gott zu uns sagt und was heute durch uns in die Welt kom­men kann. Mit ihnen zusammen will ich Ver­gangenes zurücklassen und neue Weisen des Christseins entdecken.

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