Wichtig sind Erfahrungsräume, in denen junge Menschen wachsen können, sagt Hennecke. Das Ranfttreffen (Bild) kann ein solcher Erfahrungsraum sein. Foto: Jubla Schweiz

«Katechetinnen werden zu Hebammen»

Christian Hennecke über Religionspädagogik heute

Miteinander Leben teilen, Freizeit gestalten, Gottesdienstformen entwickeln. Vor der Unterweisung in Sachen Christentum steht für Christian Hennecke die gemeinsame Erfahrung. Das hat Folgen für den Religionsunterricht.

Interview: Sylvia Stam

«pfarrblatt»: Sie sagen, Christ:in ist man heute nicht mehr einfach, man wird es. Können Sie das erläutern?

Christian Hennecke: Rund 90% der Katholik:innen bei uns haben nur wenig  Kenntnisse über Glauben und Kirche. Heute entdecken sich Christ:innen vielmehr als Menschen, die sich immer wieder auf den Weg machen, auch mit 50 oder 80 Jahren. Das betrifft die Menschen, die einen Zugang zum Evangelium haben, noch viel mehr aber jene, die in der dritten oder vierten Generation keinen Zugang mehr dazu hatten.

Wenn alle immer wieder Anfänger:innen in Sachen Christentum sind, was heisst das für den Religionsunterricht und die Katechese?

Auf der didaktischen, religionspädagogischen Seite heisst das: Wie formulieren wir heute die klassischen Traditionen und Praxen unseres Glaubens? Zum Beispiel: Was heisst beten? Was bedeutet es, dass es einen Gott geben könnte? Dass ich an ihn glaube? Was macht das mit meinem Leben? Es braucht existenzielle und lebensnahe Zugänge. Eine weitere Frage stellt sich nicht nur Religionspädagog:innen, sondern allen Christ:innen: Wie finde ich selbst  einen Zugang zum Christentum, der mir Glaubwürdigkeit ermöglicht für mich selber, aber auch gegenüber anderen? Auch heutige Religionslehrer:innen sind keineswegs mehr klassisch sozialisiert, sondern suchend auf dem Weg. Die Kirche, in deren Namen Religionsunterricht erteilt wird, darf sich fragen: Wie stützen wir die Annäherungsversuche dieser Personen?

In Ihren Büchern erwähnen Sie das Mellitus-College in England als Vorbild. Was kann die Kirche in Deutschland oder der Schweiz davon lernen?

Im Mellitus-College in London werden Amtsträger:innen der Anglikanischen Kirche ausgebildet. Entstanden ist dieses, weil Menschen aus einer sehr lebendigen Community mehr über ihren Glauben wissen wollten. Es war zunächst nicht Absicht, einen Ausbildungsort für Amtsträger:innen zu gründen, sie wollten lediglich den Hunger nach mehr Wissen, der in Gläubigen aufbricht, mit einer relevanten Theologie stillen.

Übertragen auf die Katechese geht es darum, in den Kindern den Hunger nach Bildung zu stärken.

Wenn ich das katechetisch umsetze, komme ich auf Erfahrungsräume, in denen Menschen wachsen können. Taizé etwa ist ein solcher Erfahrungsraum. Auch hier lernen Jugendliche, den Glauben zu leben und darüber zu sprechen. Im Kontext des Miteinanders werden Fragen wach, die aufgrund dieser Erfahrung in ihnen aufkamen.

Was kennzeichnet solche Erfahrungsräume?

Dort spielt mit, dass man miteinander Leben teilt, Freizeit gestaltet, dass man angemessene Gottesdienstformen entwickelt, die an diesen Ort passen. Auch Momente der Reflexion: Was haben wir jetzt erlebt? Was berührt dich? Dann wächst etwas in den Menschen. Ich glaube, das kann ein Beginn von Katechese sein kann, die sich nicht am Modell des Unterrichts, sondern am Modell eines Lebenswegs orientiert. Diese müsste begleitet werden durch Menschen, die mit den Leuten gemeinsam überlegen: Wo stehst du jetzt? Wie können wir gemeinsam einen relevanten Glauben entdecken? Das bedeutet weniger Instruktion, dafür einen eher kommunikativen Zusammenhang.

Heisst das in einer ersten Phase, dass man nicht im Schulzimmer bleibt, sondern einen Nachmittag oder eine ganze Woche mit den Kindern und Jugendlichen zusammen verbringt?

Das sind tatsächlich katechetische Erfahrungen, die viele bereits kennen: Man führt miteinander eine Lebenswoche durch, oder wir engagieren uns diakonisch und fragen nachher, was wir erlebt haben. Es gibt nicht das eine Modell für alle, sondern man muss schauen, was für die jeweilige Gruppe passt. Lernen-Wollen ist eine Antwort auf Erfahrungen, die ich nicht verstehe. Die Katechet:innen werden so zu einer Art Hebammen.

Kommen elementare Inhalte des Christentums nicht zu kurz, wenn ich diesen Ansatz wähle?

Die Frage ist, welcher Inhalt wann und wo relevant ist. Man müsste, angemessen an das Alter derer, mit denen man unterwegs ist, existentielle Erfahrungen reflektieren. Dann kommen die Inhalte. Das setzt voraus, dass Katechet:innen selber solche Erfahrungen haben und auch den eigenen Glauben reflektiert haben, die eigene Tradition so gut kennen, dass sie diese auch inkulturieren können.

Sie skizzieren die Entwicklung weg von einer Kirche, die sich an Hauptamtlichen orientiert, hin zu einer Orientierung an den Begabungen der Menschen vor Ort. Was bedeutet das mit Blick auf Katechese und Religionspädagogik?

Charismen-Orientierung hat immer etwas mit Berufung zu tun: Ich erkenne, was jemand anders gut kann. Auch Katechese ist eine besondere Begabung, Wege des Glaubens mit anderen zu gehen. Was bedeutet es, dass jemand geeignet ist, anderen den Glauben zu bezeugen? Welche Kompetenz-Profile haben diese Personen? Es reicht nicht, dass wir diese Gaben für uns selber entdecken, auch andere müssen diese Person für befähigt halten. Wenn wir als Gemeinde die Fähigkeit entwickeln, diese Begabungen in anderen zu erkennen, agieren wir alle als Volk Gottes auf Augenhöhe.

Sie haben eine Vision, wie Kirche sich entwickeln könnte. Braucht es in Anbetracht der sterbenden Volkskirche nicht zuerst eine Phase des Trauerns, aus der heraus Visionen erst entstehen können?

Vision hat mit Sehen zu tun. Ich sehe beides: das Sterben und das Werden. Meine Visionen orientieren sich nicht an Fantastereien, sondern an dem, was ich sehe, und davon erzähle ich. Für die meisten katholischen Christ:innen braucht es keine Trauerprozesse, weil sie nie so verbunden waren mit dem Gefüge der Pfarreien. Es braucht vielleicht welche für die Menschen, die sich in den Pfarreien engagieren. Für sie geht etwas Wertvolles verloren. Aber vielleicht muss das Bisherige ja auch sterben, damit es sich transformieren kann. Das tiefste Geheimnis, das wir als Christ:innen feiern, ist das von Tod und Leben. Warum darf das, was unser Kern ist, in der Kirche nicht passieren? Angesichts des Mitgliederschwunds müsste die Kirche sagen: Das ist ein spannender Moment, weil wir ja wissen, dass nach dem Ende ein Anfang kommt.

Sie gehören zu den Initant:innen des Reuss-Instituts in Luzern, wo das Leben in Gemeinschaft und geistliche Begleitung Teil der theologischen Ausbildung sind. Ist das ein Schritt in die Richtung von Kirchenentwicklung, die Ihnen vorschwebt?

Ja, das Reuss-Haus wurzelt in der Erfahrung des Mellitus-College. Wir sind allerdings erst am Anfang eines Weges und auch das Reusshaus hat noch einige Kinderkrankheiten. Wir müssen aber tatsächlich nachdenken über die Zukunft der Theolog:innen-Ausbildung. Wir alle brauchen heute bedeutend mehr Existenzialität, um unseren Glauben inmitten einer post-christlichen Welt zur Geltung zu bringen. Vielleicht brauchen wir eine Theologie, die nicht nur rein akademisch ist, sondern geerdet und anspruchsvoll zugleich. In Norddeutschland gibt es bei den Studierenden für hauptamtliche Berufe immer mehr Quereinsteiger:innen: Kaufleute, Banker:innen. Und diese stellen Fragen. Was für eine Art von Theologie brauchen diese Menschen, damit ihr Hunger und ihr Durst gestillt wird?

Christian Hennecke (*1961) ist Leiter der Hauptabteilung Pastoral im deutschen Bistum Hildesheim. Nach dem Studium der katholischen Theologie in Münster und Rom war er einige Jahre Kaplan und Pfarrer in Gemeinden in Norddeutschland. Er ist Autor zahlreicher Bücher und leitet seit vier Jahren die «Summer School» im Pastoralraum und Kirchgemeindeverband Bern Oberland.

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