Der Theologe Meinrad Furrer will auf Zwischentöne in der Bibel hinweisen. Foto: Sylvia Stam

«ketzerisch!» – «wundervoll!»

Die Luzerner Queerbibel polarisiert

Geschichten aus der Bibel neu erzählen. In Dialog treten mit biblischen Figuren – aus der Sicht lesbischer, schwuler, bisexueller und trans Menschen: Seit Kurzem gibt es in Luzern die Queerbibel. Sie löst eine heftige Kontroverse aus: Darf man mit dem Buch der Bücher so frei umgehen?

von Marcel Friedli-Schwarz

Sie schluchzt und schnieft – die achtzigjährige Frau auf der Bank in der Luzerner Peterskapelle. Sie bereut und betrauert, dass sie und ihr Mann Erotik und Sexualität nicht so gelebt haben, wie sie sich das im Rückblick wünschen würde: mit Freude und Spass, mit Leichtigkeit und Leidenschaft. Die Trauer kriecht hoch, nachdem sie einen Text aus der Queerbibel gelesen hat, die vorne in der Kapelle liegt und die vom Gestalten von Sexualität als bereichernde Lebenskraft erzählt.

Polarisierend

«Die Queerbibel spricht nicht nur lesbische und schwule Menschen an», sagt Theologe Meinrad Furrer. «Denn viele Menschen haben einen zentralen Teil ihres Lebens verpasst, weil ihnen die lustfeindliche Sexualmoral der Kirche in Fleisch und Blut übergegangen ist.»

Meinrad Furrer ist nicht nur Leiter des Teams Peterskapelle. Er ist mit Mentari Baumann von der Allianz gleichwürdig katholisch auch Teil des Projektteams der Queerbibel (siehe Kasten). Ein Buch in den Farben des Regenbogens, mit momentan etwa zwei Dutzend Texten: Nacherzählungen, die an diversen Stellen eingelegt sind. Das Original wird nicht überdeckt, sondern ist weiter ersichtlich. «Wir vereinnahmen die Bibel nicht», betont Meinrad Furrer. «Wir weisen lediglich auf mögliche Zwischentöne hin.»

Meinrad Furrer wählt seine Worte mit Bedacht, vorsichtig. Denn er ist sich bewusst, wie stark die Queerbibel polarisiert. Darum ist sie besudelt worden. Zerkratzt. Blätter, auf denen biblische Geschichten anders, ergänzt (nach-)erzählt werden, sind zerfleddert und zerrissen. Einige Seiten herausgerissen. «Die Queerbibel ist ketzerisch», ist daneben auf einen Zettel gekritzelt, «und ein Götzenglauben! Schämt euch. Möge Gott euch verzeihen.»

«Queer-Propaganda»

Zuhauf kommt es zuvor zu ähnlichen Äusserungen im Internet. «Was für eine geistlose, dumme, im Kern blasphemische und arrogante Idee!», heisst es in einem Kommentar. «Offenbar will man die letzten Getreuen aus den Kirchen vertreiben», wird weiter gepoltert, «nach der Kampagne gegen die Konzerne nun die Queer-Propaganda.» Von «absurdem neuen Schrott» und von «quer in der Landschaft stehendem Quatsch» ist ebenso die Rede.


Aufgrund solcher Reaktionen haben Mentari Baumann von der Allianz gleichwürdig katholisch und Meinrad Furrer stets für möglich gehalten, dass die Bibel beschädigt wird. Doch wollten sie zuwarten, das malträtierte Buch des Anstosses zu reparieren, und haben es so in der Kirche belassen. Darauf hat jemand den Kommentar des Täters oder der Täterin durchgestrichen – und überschrieben: «Die Queerbibel ist wundervoll und ein Superglaube! Skandal. Schämt euch nicht! Möge Gott euch Homophoben verzeihen!»

Im Anschluss haben Meinrad Furrer und Mentari Baumann einen Anlass organisiert, um über die (Hinter-)Gründe zu informieren und darüber zu diskutieren. Dreizehn Personen waren dabei. «Wahrscheinlich», sagt Meinrad Furrer, «waren die massiven Kritiker:innen der queeren Bibel nicht anwesend. Es gab eine angeregte Diskussion. Das Band der Voten war breit.»

Rote Linie überschritten

Bis zu einem gewissen Grad kann Mentari Baumann die heftigen Reaktionen zur Queerbibel nachvollziehen. «Die Bibel mit anderem Ansatz als dem vertrauten zu lesen, kann das Weltbild auf den Kopf stellen. Wir alle sind geprägt von den Werten und Normen und dem Weltbild, das uns mitgegeben worden ist», sagt sie. Sähen andere die Welt mit einem uns fremden Blick, könne das verunsichern und Ängste auslösen, die sich in abwehrenden und abwertenden Äusserungen zeigen. «Doch mit dem Vandalenakt ist die rote Linie deutlich überschritten.»

Die Polizei hat laut Meinrad Furrer von einer Anzeige abgeraten. Die Erfolgsaussichten seien minimal, zumal so viele Menschen die Luzerner Peterskapelle betreten und keine Kamera installiert ist. Sowieso: Meinrad Furrer und Mentari Baumann wollen die Geschichte nicht über die Justiz lösen – sondern im Dialog.

Bibel ins Heute holen

Einen neutralen Blick auf diese Kontroverse hat Matthias Ederer. Er ist Professor für Exegese des Alten Testamentes an der Universität Luzern. «Wirklich deutlich», sagt er, «lässt sich in den biblischen Texten kein Bewusstsein für das erkennen, was wir mit dem modernen Wort queer umschreiben.»

Sinn und Bedeutung eines Textes seien allerdings mehr als das, was ein Autor vor langer Zeit habe sagen wollen, sagt Matthias Ederer weiter. «Es geht auch darum, was der Text an Gedanken, Assoziationen und Bildern auslöst. Aus heutiger Sicht gibt es daher viele interessante Ansatzpunkte, die uralten Texte der Bibel und das Thema queer zusammenzubringen. Damit fügen sie den vielen stimmigen Deutungen der Geschichte eine neue hinzu. Nacherzählen ist seit 2300 Jahren die beste Art und Weise, die Bibel ins Heute zu holen.»
 

Geschichten (nach-) erzählen
In der Peterskapelle in Luzern ist die – inzwischen geflickte – Queerbibel zu bewundern. Auf einem Infoständer werden die Hintergründe beleuchtet: der Bezug zu queer-feministischer Theologie wird hergestellt und auf die Art der Entstehung biblischer Texte hingewiesen. Hinter queer-feministischer Theologie steht die Idee, aus heterosexueller und patriarchaler Religiosität zu befreien. An der Pride in Luzern von Ende August ist die erste queere Bibel entstanden. Inspiriert ist sie vom Zoom-Format Brot & Liebe: www.brot-liebe.net.

Als Drehscheibe der Queerbibel fungieren der Theologe Meinrad Furrer und Mentari Baumann. Sie führt seit zwei Jahren eine Reformbewegung der katholischen Kirche: die Allianz gleichwürdig katholisch. Parallel peilt sie einen interdisziplinären Master an, zu dem Theologie gehört. Sie hat indonesische Wurzeln und lebt mit ihrer Frau in Bern. Mentari Baumann und Meinrad Furrer arbeiten mit vielen, meist queeren Menschen zusammen, die einen Bezug und Wissen zur Thematik – und Freude am Schreiben – haben. Fortlaufend werden weitere Texte mit neuen Lesarten, Nacherzählungen und literarisch inspirierte Ansätze über Social Media verbreitet und sind online abrufbar: www.gleichwuerdig.ch

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