In ihrer mütterlichen Sorge zeigt Maria ihre Menschlichkeit. Foto: Molnar Balint, unsplash.com

«Kind, wie konntest du uns das antun?»

Marienmonat Mai: Der zwölfjährige Jesus im Tempel

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

«Jeschua, wo bist du?» Immer wieder riefen sie nach ihm, suchten den verlorenen Knaben in der Pilgergruppe, die heimwärts zog, hinunter nach Galiläa. «Jeschua, Jeschua, wo steckst du nur?» Maria und Josef hatten sich mit ihrem Sohn zum Paschafest nach Jerusalem begeben, und jetzt lagen einige Tagesetappen vor ihnen, bis sie wieder Nazaret erreichten. Aber die Sorge um Jeschua, der sich nicht finden liess, bewog sie zur Umkehr. Sie suchten ihn in Jerusalem, fragten überall nach, quälten sich nachts mit düsteren Gedanken. Endlich, nach drei Tagen, fanden sie den Knaben im Tempel, wo er mitten unter den Schriftgelehrten sass, die ihm staunend zuhörten.

Jetzt kann sich Maria nicht mehr zurückhalten: «Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.» Sie sorgt für jenen raren Moment in der biblischen Überlieferung, der offen ihre Gefühle zeigt: die Mischung aus mütterlicher Sorge und Liebe, Verletztheit und Vorwurf. Da rückt sie uns im Marienmonat Mai ganz nah in ihrer Menschlichkeit. Denn wer kann sich nicht mit ihr identifizieren? Wer hat nicht schon selbst nach seinem Kind gesucht, wer hat nicht erlebt, dass Söhne oder Töchter auf Abwege geraten sind und gar den Kontakt abgebrochen haben?

Die Marienfrömmigkeit erkennt in dieser verzweifelten Suche einen der sieben Schmerzen Marias (Fest am 15. September), die sie in den künstlerischen Darstellungen als Schwerter durchbohren. Anders sah dies Johann Sebastian Bach in seiner Kantate «Mein liebster Jesus ist verloren» (BWV 154), die 1724 erstmals in Leipzig aufgeführt wurde. Anders deuteten auch die Textdichter der einzelnen Sätze die biblische Szene. Marias Sorge tritt bei ihnen zurück. Dagegen spiegeln Suchen und Wiederfinden nun die Wege jedes Menschen zu Gott, erst verstellt von Dunkelheit, danach im Glanz des Lichts. Deshalb lebt auch die musikalische Gestaltung von starken Kontrasten, und die Kantate endet in einem mitreissenden Jubel. «Meinen Jesum lass ich nicht», singt das Quartett von Sopran, Alt, Tenor und Bass. In der Lukasszene (2,41 ff.) grenzt sich Jesus schroff von seinen Eltern ab, als ob er gar nicht gefunden werden möchte.

«Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?» Die Eltern verstehen den Sinn seiner Aussage nicht, und ihr Nichtverständnis markiert den inneren Abstand zwischen ihnen und dem Sohn, nachdem der äussere aufgehoben worden ist. Was ist nur in ihn gefahren? Manifestiert sich hier jene Ausserordentlichkeit, welche bereits die Verkündigungsszene angezeigt hat? Die Eltern mögen in diesem Moment gehadert und statt des Wunderkinds einen ganz gewöhnlichen Knaben gewünscht haben. Doch Jesus kehrt mit ihnen nach Nazaret zurück, ins arme Dorf der Kleinbauern und Tagelöhner mit ihren Lehmziegelhütten – «und war ihnen gehorsam».

«Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen», schreibt Lukas, der Arzt, feinsinnig am Schluss dieser einzigen Jugendgeschichte aus dem Leben Jesu, welche die kanonischen Evangelien aufgezeichnet haben. Der Satz deckt sich wörtlich mit jenem der Weihnachtsgeschichte (Lk 2,19). Nur der Zusatz, dass Maria darüber nachdachte, fehlt in der Tempelgeschichte. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass sie das Bild des Zwölfjährigen, der den Lehrern im Tempel zuhörte und ihnen Fragen stellte, immer wieder in ihrem Herzen erwog. Nur wissen wir nicht, welche Fragen das frühreife Kind bewegten. Äusserte sich bereits ein Zweifel an den Prinzipien der Schriftgelehrten, an ihren scheinbar selbstverständlichen Glaubenssätzen?

Auf seiner Hollandreise ist der jüdische Maler Max Liebermann (1847–1935) im Amsterdamer Judenviertel zu einem Gemälde inspiriert worden, das in der Hamburger Kunsthalle hängt: «Der zwölfjährige Jesus im Tempel» aus dem Jahr 1879. Es rief in antisemitischen Kreisen einen Skandal hervor. Der ungewaschene kecke Bub im schmutzigen Hemd, dazu lebhaft gestikulierend, beleidige das religiöse Empfinden, hiess es. Liebermann sah sich gezwungen, die Jesusfigur zu übermalen und eine bescheidenere Version des debattierenden Knaben zu wählen.

Lukas indessen beschreibt einen selbstbewussten Auftritt des Zwölfjährigen, der ein Jahr später gemäss dem jüdischen Brauch die Religionsmündigkeit erreichen wird. Maria muss gespürt haben, dass ihr Jeschua jäh seine Kindlichkeit verloren hat. In diesem Augenblick ahnte sie jene Fremdheit zwischen ihr und dem Sohn, welche Eltern aller Zeiten erleben – dann nämlich, wenn die Kinder fortstreben und andere Wege einschlagen.

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