«Es sei vermutlich so, dass Gott letztlich nicht die Liebe sei, sondern das Licht». Foto: Andreas Krummenacher

Kinder des Lichts

Von Lichterfahrungen einst und jetzt

Ohne Licht gäbe es kein Leben - im eigentlichen und im übertragenen Wortsinne. Aber zum Licht gehört auch die Dunkelheit, die es durchdringt. Beatrice Eichmann-Leutenegger  zu Lichterfahrungen von einst und jetzt.

von Beatrice Eichmann-Leutenegger

Jeden Morgen steht mein indischer Nachbar, ein Hindu, auf der Terrasse, breitet die Arme aus und begrüsst das Licht des Tages, worauf er sich verneigt.
«Am schlimmsten war die Dunkelheit», erinnert sich die 85-jährige Agnes Hirschi aus Ostermundigen, eine der letzten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz. 30 jüdische Verfolgte harrten seit Wochen im Keller der Residenz des Schweizer Diplomaten Carl Lutz in Budapest aus. Im Kriegswinter 1944/45 stand die ungarische Hauptstadt im Bombenhagel. Erst im Februar 1945, nach zwei Monaten Finsternis, durften die Untergetauchten wieder den Innenhof betreten. Nach langem wieder in die Helligkeit zu kommen, war für die siebenjährige Agnes unglaublich. Licht ist befreiend.

Licht ist Leben

Aus dem Dunkel der Romanik wuchsen die gotischen Kathedralen ins Licht empor. Wie staunten die Menschen damals, als die massiven Wände plötzlich durch Galerien und Fenster aufgebrochen wurden, als die Glasmalereien die hereinbrechenden Sonnenstrahlen farbig gebündelt ins Innere schickten! Eine ähnliche Wende vollzog sich Jahrhunderte später in der Malerei, als die französischen Maler das Atelier verliessen und mit der Staffelei ins Freie zogen. Die Farben hellten sich auf, Licht und Luft strömten in die Bilder. Licht ist Leben.

In der Genesis lesen wir die machtvollen Eingangssätze: «… die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.» Das göttliche Wort «Es werde Licht» veränderte die Dinge entscheidend. Alles drängte nun zum Licht: Pflanzen, Tiere, Menschen. Jede Minute verlässt ein kleines Wesen die Dunkelheit des mütterlichen Uterus, wird in heftigen Stössen vorangetrieben, bis es das Licht der Welt erblickt. Kaum vermag es vorerst die Augen zu öffnen, weil die Helligkeit so sehr blendet. Ja, das Licht kann mit seinem jähen Einfall als schmerzlich empfunden werden.

Das österliche Licht

«Der Glanz des Herrn» (Lk 2, 9) umstrahlte die Engel, als sie den Hirten die frohe Botschaft der Geburt Christi verkündeten. Diese aber erschraken ob des unerwarteten Lichts. Ebenso fuhren die Frauen zusammen, die mit wohlriechenden Salben in aller Frühe zum Grab Christi gingen und dort «zwei Männer in leuchtenden Gewändern» (Lk 24, 4–5) antrafen. Kein anderer Maler hat die Auferstehung Christi so lichtvoll dargestellt wie Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar in Colmar (1512–1516). Es ist gleichsam eine Geburt aus der Finsternis ins Licht. Christus fährt in einer triumphalen Bewegung aus dem düsteren Grab auf, umgeben von einer goldgelben Gloriole, während die Wächter geblendet zu Boden stürzen. «Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen!», bittet Mose den Herrn (Ex 33, 18). Doch die Antwort lautet: «… kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.» Darauf gründet eine alte finnische Weisheit: «Wer Gottes Antlitz sieht, muss sterben.» Der schwedische Autor Hjalmar Söderberg (1869–1941) nimmt sie in seinem Roman «Doktor Glas» (1905) zum Anlass einer Reflexion über die Wahrheit: «Dieses ganze rasende Bedürfnis, zu erklären und zu verstehen, diese Jagd nach Wahrheit ist vielleicht ein Irrweg. Wir segnen die Sonne, weil wir in genau dem Abstand von ihr leben, der uns zuträglich ist. Ein paar Millionen Meilen näher oder weiter weg, und wir würden verbrennen oder erfrieren. Wenn es sich mit der Wahrheit nun so verhielte wie mit der Sonne?»

Gott ist das Licht

Dem Skeptiker Hjalmar Söderberg steht der Schweizer Autor Gerhard Meier (1917–2008) gegenüber, der indessen seine positiven Aussagen vorsichtig abwägt. Sein Roman «Die Ballade vom Schneien» (1985), der Abschluss der «Baur und Bindschädler»-Trilogie, führt uns in die letzte Nacht Baurs, der krank im Spital zu Amrain liegt. Freund Bindschädler hört zu, während Baur aus seinem Leben erzählt. Auf einem der Rundgänge in Olten, welche die Freunde früher unternommen hatten, sagte Baur, «es sei vermutlich so, dass Gott letztlich nicht die Liebe sei, sondern das Licht». Aber einmal hinterfragte er diese Deutung und meinte, dass Gott «alles in allem» sei. Als Bindschädler am Morgen Baurs Tod feststellt, treibt über Amrain Nebel, «der sich verfärbte in der aufgehenden Sonne».

Oft beschwört Paulus in den Briefen an seine Gemeinden das Licht und dessen Gegenpol: «Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. Lebt als Kinder des Lichts» (Eph 5, 8). Es sind österliche Sätze unserer eigenen Auferstehung. Mein indischer Nachbar wendet sich gegen Osten, verneigt sich nochmals und geht ins Haus zurück.

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