Jürgen Werth, Journalist, Liedermacher und Moderator, kann sich durchaus vorstellen, mit ihm «in irgendeinem gemütlichen Café an irgendeinem belebten Boulevard» zusammenzusitzen und über Gott und die Welt zu reden. Mutig, denn sein direktes Gegenüber wäre der bekannte Theologe Dietrich Bonhoeffer, der wegen seines Widerstands gegen den Nationalsozialismus vor 75 Jahren im KZ Flossenbürg hingerichtet wurde; der verehrt wird über deutsche und europäische Grenzen hinaus; der als Märtyrer des 20. Jahrhunderts gilt und dessen theologische Überlegungen ihrer Zeit teilweise weit voraus waren.
Im Alter von 16 Jahren hat Werth ein Bändchen mit Bonhoeffers Briefen aus der Haft erstanden und lässt sich über 50 Jahre später auf einen fiktiven Briefwechsel ein. Die ausgewählten Briefe, ursprünglich an Bonhoeffers Eltern und an seinen Freund Eberhard Bethge gerichtet, berühren und schwingen nach. Dankbarkeit, sogar Freude, aber auch Todesangst während der Bombenangriffe kommen ebenso zur Sprache wie theologische Überlegungen.
Die Auseinandersetzung Jürgen Werths mit diesen Texten lässt niemals Zweifel an Hochachtung aufkommen, kann – durch eigene Lebenserfahrung in einer anderen Zeit begründet – andererseits aber auf Augenhöhe erfolgen.
Behutsam fühlt er sich in die Gedanken- und Erlebniswelt des Häftlings Bonhoeffer ein, versucht, auch zwischen den Zeilen zu lesen und muss – mit heutigem Wissen um dessen Schicksal – schmerzlich aushalten, dass die starke und nicht zu besiegende Hoffnung auf Entlassung letztlich vergeblich war. Weint mit Bonhoeffer über die kalte Leere nach dem kurzen Besuch seiner Verlobten…
Werth stellt seine Fragen nicht rhetorisch, sie folgen seinen Beobachtungen aus dem Heute und tiefem Mitgefühl mit dem jungen Mann, dem damals in seiner Zelle nichts anderes übrigblieb, als auszuharren. Der trotzdem immer wieder neu die Kraft aufbrachte, andere aufzumuntern, seine eigenen Wünsche zurückzustellen.
Die «guten Mächte», von denen sich der Verhaftete «wunderbar geborgen» fühlte … Man wagt zu spüren, dass der lesbar liebevolle Zusammenhalt der Familie wie auch Bonhoeffers langjährige Freundschaft mit Eberhard Bethge darin fest eingeschlossen waren. Letzterem vertraute er aus der Zelle heraus besonders auch Gedanken an, mit denen er die Familie nicht belasten wollte. In theologischen Fragen scheinen sich die beiden ideal ergänzt und herausgefordert haben.
Jürgen Werth wiederum fügt in seinen Antworten das für die Lesenden nötige Hintergrundwissen äusserst dezent hinzu und öffnet die Tür in die Gegenwart. Es wird sichtbar, wie zeitlos die wichtigen Fragen des Lebens doch sind: Da geht es um die Rolle von Beziehungen, das Glück, für andere wichtig zu sein und nicht nur nach Leistungen beurteilt zu werden. Darum, dass man sich an kleinen Dingen dankbar freuen kann, die grossen Ziele aber nicht aus den Augen verlieren sollte… Auch heute fragt sich so manche*r, wie «richtiges Beten» zu definieren sei, was gute Seelsorge ausmacht, wann Hilfe «wirkliche Hilfe» ist. Noch immer steht eine latente Überheblichkeit im Raum, wenn es gilt, andere Herangehensweisen an den Glauben zu akzeptieren und ernst zu nehmen. Die Suche nach Sinn in einer zunehmend religionslosen Gesellschaft eingeschlossen.
Eine zeitlose Einladung, über eigene Werte, Glauben und Verantwortung nachzudenken.
Andrea Huwyler
Werth, Jürgen : Lieber Dietrich ... Dein Jürgen. Über Leben am Abgrund – ein Briefwechsel mit Bonhoeffer. Gütersloher Verlagshaus, 2020. 192 Seiten, Fr. 25,90
Dietrich Bonhoeffer war ein lutherischer Theologe, bekannt durch zahlreiche Texte, theologische und politische Schriften. Ab April 1933 sprach er sich öffentlich gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung aus, er beteiligte sich aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 1940 erhielt er Redeverbot, 1941 Schreibverbot. 1943 wurde er verhaftet, am 9. April 1945 folgte – auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers – die Ermordung im Konzentrationslager Flossenbürg.