Bild einer Ausstellung von Daniel Lienhard: «Benedetto, Angestellter bei der Städtischen Müllabfuhr» (San Benedetto di Palermo, José Montes de Oca, ca. 1734) | Bildmontage: Daniel Lienhard

Märtyrer:innen der Marktwirtschaft

Wenn Heilige plötzlich bei der Müllabfuhr arbeiten

Menschen, die in unserer Gesellschaft wenig angesehene und schlecht bezahlte Jobs ausüben, sind Märtyrerinnen und Märtyrer unserer Marktwirtschaft. Illustrator Daniel Lienhard will den Blick auf solche Menschen ändern: «Wenn ich einen in Gold gekleideten Benedetto zum Müllauto stelle, erreiche ich, dass man diesen Müllarbeiter mit anderen Augen sieht.»

Interview: Wolfgang Holz/kath.ch; Bildmontagen: Daniel Lienhard

Mussten Sie in Ihrem Leben schon einmal «Drecksarbeit» machen?

Daniel Lienhard*: Wenn Sie «Drecksarbeit» als Arbeit verstehen, die keiner machen will: Nein, das musste ich nie. Ich war diesbezüglich immer sehr privilegiert und bin mir dessen auch deutlich bewusst. Auf der anderen Seite kenne ich prekäre Arbeitsverhältnisse aus eigener Erfahrung. Aber ich hatte diese Arbeiten selbst gewählt.


Das ist etwas völlig anderes, als wenn einen die Verhältnisse dazu zwingen und einem keinen Spielraum lassen. Ich habe zum Beispiel als 27-Jähriger mit einem Kollegen eine Privatschule gegründet. In den ersten Jahren konnten wir uns nur einen Hungerlohn auszahlen. Und wir haben alles gemacht – vom Unterrichten bis zum Putzen der Schultoiletten. Also in gewissem Sinne auch die Drecksarbeit.

Wie würden Sie «Drecksarbeit» definieren? Sind Menschen, die solche Tätigkeiten ausführen müssen, quasi die Arbeitssklavinnen und -sklaven von heute?

Ja. Unsere Service-Gesellschaft braucht Sklavinnen und Sklaven, die diese Serviceleistungen erbringen. Wenn ich klick-klick im Internet etwas bestelle, dann will ich es auch subito geliefert bekommen. Also muss das jemand verpacken.


Und jemand muss es mir an die Haustür bringen. Ab einem bestimmten Bestellwert zahle ich nicht einmal Lieferkosten. Schon daraus kann ich erahnen, wie wenig die Verpackerin und der Postbote verdienen. Der massive Wohlstand in unseren Breiten – wohlverstanden immer nur für einen Teil der Leute – kann nur aufrecht erhalten werden durch das Ausnützen der Zudienerinnen und Zudiener des Systems. Anders rechnet sich das nicht.


Sie haben in einer Bildserie über Leute in prekären Arbeitsverhältnissen mit dem Titel: «Wer in diesem Land die Arbeit macht», zwölf Heiligenfiguren an die Stelle jener Menschen gerückt, die solche Arbeiten normalerweise ausführen. Zum Beispiel sitzt die spätgotische Figur der Heiligen Katharina aus dem 13. Jahrhundert an einer Supermarktkasse. Was wollen Sie mit dieser künstlerischen Verfremdungsstrategie bezwecken?

In meiner Arbeit als Illustrator kombiniere ich gerne Elemente aus verschiedenen Welten und hoffe auf einen Überraschungseffekt. Hier also Heilige aus der Welt von Religion und Spiritualität mit Arbeitsverhältnissen in der freien Marktwirtschaft. Im besten Fall funktioniert das dann wie in der Chemie, wenn man zwei Substanzen zusammenbringt.


Es gibt einen Funken oder es knallt. Dann wird im Kopf von Betrachterinnen und Betrachtern etwas in Gang gesetzt: Halt, da stimmt doch was nicht! Eine Heilige an der Kasse? Was soll das? Im besten Fall wird dann nochmals hingeschaut oder sogar der Text dazu gelesen. Und im allerbesten Fall beim nächsten Mal im Supermarkt die Angestellten mit anderen Augen gesehen. Wenn dies gelingt, ist das für mich ein ganz grosses Geschenk.

Man denkt bei Heiligen in der Bibel etwa an Märtyrerinnen und Märtyrer, die für ihren Glauben an Gott leiden mussten und hingerichtet wurden. Sind Menschen, die als Paketzusteller, Krankenschwestern, Putzfrauen, Güselmänner arbeiten, die Märtyrerinnen und Märtyrer unserer Marktwirtschaft?

Das ist ein interessanter Gedanke. Nein, so habe ich es nicht gesehen. Ich wollte bloss, dass man hinsieht. Dass man die Leute ansieht, die die vielen, oft kaum sichtbaren Arbeiten verrichten. Wenn ich einen in Gold gekleideten Benedetto zum Güselauto stelle, erreiche ich, dass man diesen Güselarbeiter mit anderen Augen sieht. Ich wollte die Leute, die ganz unten in der Gesellschaft stehen, erhöhen.


Wie sind Sie auf die Idee gekommen?

Ich hatte mit dieser Serie 2018, vor Ausbruch der Pandemie, begonnen. Und mit Corona begann man plötzlich von «systemrelevanten Berufen» zu sprechen. Von genau den Berufen, die ich hier zeige.

Man erkannte plötzlich, auf wen man nicht verzichten konnte. Aber leider und paradoxerweise läuft es in unserer Gesellschaft so, dass die, auf die man locker verzichten könnte, in der Regel gut verdienen. Und die, die unverzichtbar sind, schlecht.


Wie gehen Sie bei Ihren Arbeiten vor? Woher nehmen Sie die Heiligenfiguren für Ihre Bildillustrationen?

Ich bin als Illustrator dauernd auf Bildersuche. Und heute – das ist ein echter Luxus – findet man im Internet die schönsten Heiligen hochaufgelöst und gratis. Viele Museen stellen ihre Exponate digital zur Verfügung. Auf diesen Seiten treibe ich mich herum.


Wenn ich ein paar schön geschnitzte Heilige beisammen habe, baue ich jeder Figur eine Szene, in die ich sie dann einmontieren kann. Ich arbeite mit einer Software, die Architekten üblicherweise verwenden, um die Entwürfe ihrer Bauten zu visualisieren. Sie stellen Bauten, die es noch nicht gibt, in die wirkliche Umgebung. Sie verschmelzen also Vision und Realität. Ich mache dasselbe.

Haben Sie auch schon negative Reaktionen erhalten – in Sinne einer Entweihung der religiösen Heiligenfiguren für künstlerische Botschaften?

Nein. Nicht wegen der «Entweihung» der Heiligen. Dass ich sie vom Sockel herunterhole, das kommt eigentlich überall gut an. Bei Katholiken und Reformierten. Und auch bei Leuten, die mit der Kirche gar nichts am Hut haben.


Gab es wirklich gar keine negative Reaktion?

Doch. Eine interessante negative Reaktion kam von unerwarteter Seite. Wir kennen eine Redaktorin einer katholischen Zeitschrift, die schon lange in Pension ist. Sie war befreundet mit einem inzwischen verstorbenen ehemaligen Abt eines Benediktinerklosters.

Die beiden hatten im gleichen Mehrfamilienhaus je eine kleine Wohnung, lebten also fast zusammen. Beide waren auch im hohen Alter sehr aufgeschlossen, politisch links und gegenüber der Kirche sehr kritisch. Die beiden verstanden nicht, was ich denn an diesen Heiligen so anziehend fände. Heilige gehörten für sie zum Personal einer Institution, in deren Dienst sie zwar ihr Leben gestellt hatten, von der sie im Grunde aber tief enttäuscht waren. Sie konnten einfach nicht verstehen, warum ich meine Zeit mit Heiligen verschwende.


Welcher oder welche Heilige ist denn Ihre Lieblingsillustration?

Ach, ich habe nicht einen bestimmten Liebling. Das ist wie bei den eigenen Kindern. Man kann nicht sagen, welches einem das Liebste sei. Alle haben etwas Liebenswertes. Aber Benedetto, den Güselarbeiter, den mag ich besonders. Er war es, der mich überhaupt erst draufgebracht hat, etwas mit Heiligenfiguren zu machen. Soll ich Ihnen das kurz schildern? Dazu muss ich allerdings etwas ausholen.

Schiessen Sie los…

Ich wollte schon lange einmal etwas über Leute in prekären Arbeitsverhältnissen machen. Aber es blieb irgendwie diffus. Angefangen hat mein Interesse, als mir die vielen Lastwagen auffielen, die sich Nacht für Nacht auf den Rastplätzen der Rheintalautobahn drängen, weil die Fernfahrer ja irgendwo übernachten müssen. 40 Tonnen schwere, dunkle Zeugen inakzeptabler Arbeitsbedingungen, in unserem Land, vor unseren Augen – wenn man sie denn sehen will.

Diese einsamen Fahrer aus Rumänien oder der Slowakei, die den ganzen Tag in ihrer Kabine sitzen und nachts in der gleichen Kabine schlafen. Die im Vornherein auf Familie verzichten oder erst schmerzhaft erkennen müssen, dass Frau und Kinder mit diesem Beruf nicht kompatibel sind. Deren imposante Trucks vergessen lassen, dass da eigentlich Arbeitssklaven unterwegs sind.


Das war also Ihr erster thematischer Aufhänger?

Ja, aber ich wusste lange nicht, wie ich das Thema illustratorisch angehen sollte. Ich hätte das Thema dramatisieren oder überzeichnen können. Aber ich wollte nichts Reisserisches. Humor passte gar nicht, obwohl ich mich sonst sehr gerne auch über Ernstes lustig mache. Dann bin ich zufällig auf die Skulptur des Heiligen Benedetto gestossen.

Wer ist der Heilige Benedetto?

Benedetto lebte – aufgrund unfreiwilliger Migration – im 16. Jahrhundert mit seinen Eltern als Sklave auf dem Gut eines sizilianischen Orangen-Bauern. Wegen der grossen Loyalität seiner Eltern schenkte der Gutsherr Benedetto, als er 18 war, die Freiheit.

Der fand im Minoritenkloster Santa Maria di Gesù in Palermo Arbeit in der Küche. Und obwohl Benedetto Analphabet war, wurde er schon bald und gegen seinen ausdrücklichen Willen zum Abt gewählt. Er reformierte das Kloster sehr intelligent, behielt aber sein ganzes Leben lang seinen Dienst in der Küche bei. Benedetto ist heute Schutzpatron von Palermo. 

Was für eine Karriere, im Nachhinein betrachtet!

Ich wusste auf jeden Fall sofort: Mit dem wollte ich etwas machen. Etwas über moderne Sklaverei. Benedettos Legende zeigt ja ganz deutlich, dass sich seit dem 16. Jahrhundert diesbezüglich nicht sehr viel verändert hat.

Ein dunkelhäutiger Migrant als Ernte-Sklave in Süditalien. Dafür müssten wir eigentlich nicht fünf Jahrhunderte zurück, das haben wir heute vor der globalen Haustür. Und so prallte in meinem Kopf und in meinem Herzen die Welt des Heiligen aus Palermo auf die Welt der Fernfahrer auf der Rheintalautobahn. Jetzt wusste ich, wie ich’s machen wollte.

Ihre Verfremdungsstrategie, Heilige in die Rollen von Menschen mit prestigelosen Berufen schlüpfen zu lassen, wirkt emotional sehr berührend. Weil sie den Wert der menschlichen Arbeit vor Augen führt – jenseits ihrer unmenschlichen Bezahlung. Warum ist aus Ihrer Sicht die Arbeit einer Krankenpflegerin oder eines Busfahrers deutlich weniger wert als die eines Unternehmensberaters – obwohl sie menschlich mehr Verantwortung tragen?

Ich habe eigentlich keine Erklärung dafür. Ich weiss nicht, wie es so weit kommen konnte. Aber es ist für mich ein Zeichen, dass unsere Gesellschaftsordnung eine Fehlkonstruktion ist. Eine «verkehrte» Welt.

Wir bauen auf «verkehrte» Wertsysteme, die sich radikal ändern müssten. Vielleicht hat es schon mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche zu tun. Wenn mich etwa der Unternehmensberater erfolgreich berät und ich wacker Steuern spare, habe ich am Ende einen messbaren Erfolg – mehr Geld – und bin dann eher bereit, ihm sein unverschämtes Honorar zu zahlen.

Aber wie soll man auf der anderen Seite die Philippinin bewerten, die im Altersheim dem dementen alten Herrn jeden Morgen geduldig in die Dusche und in die Kleider hilft? Was ist es uns wert, dass dieser Herr die letzten Jahre seines Lebens würdig und in einer freundlichen Umgebung verbringen kann? Und wie müssten wir die Freundlichkeit und die Geduld der philippinischen Pflegerin anständig honorieren?


Wird der Mensch als Wert letztlich zum Auslaufmodell unserer kapitalistischen, auf Geld und Profit angelegten Gesellschaft?

Im Moment will es so aussehen. Aber es ist in Wahrheit doch so, dass die freie Marktwirtschaft das Auslaufmodell ist. Die Idee, dass der freie Markt mit unsichtbarer Hand alles gütig regle wie einst der liebe Gott, die hat sich doch schon längst ad absurdum geführt. Nur hat es sich leider noch nicht überall herumgesprochen. Vielleicht werden wir rascher, als es uns lieb ist, dazu gezwungen, grundsätzlich über die Bücher zu gehen. «Der Markt wird es schon richten», das ist definitiv vorbei.

Andererseits gibt es noch immer das Sprichwort: «Jeder ist seines Glückes Schmied». Wie klingt dieser Slogan aus Ihrer Sicht für Menschen, die für andere Drecksarbeit verrichten und anderen damit den Wohlstand sichern müssen?

Dass jeder seines Glückes Schmied sei, ist im Blick auf die Gesamtgesellschaft ein fataler Spruch. Die politische Rechte benutzt ihn gern. In Österreich hatten wir ja diesen unsäglichen Kanzler Kurz. Der prägte das Wort von den Frühaufstehern, die belohnt werden müssten. Damit meinte er aber nicht die Putzfrau, die morgens um fünf sein Büro im Kanzleramt reinigte. Sondern er meinte all jene, die in geregelter Arbeit fleissig und ohne aufzumucken, tätig waren – im Gegensatz zu all den anderen, die faul in der sozialen Hängematte lagen. Darin ist die Erzählung versteckt, dass jeder eine anständige Arbeit finde, wenn er nur wolle. Und – noch schlimmer – dass man die tüchtigen Starken vor der Faulheit der Schwachen schützen müsse. Unerträglich, aber immer noch mehrheitsfähig, auch in der Schweiz.

Bleibt die Frage: Wie können sich Menschen in solchen prekären Arbeitsexistenzen wehren? Was können wir alle dagegen tun?

Ja, das ist natürlich die entscheidende Frage. Dass die Leute ganz unten aus eigener Kraft die Verhältnisse ändern könnten, da bin ich eher pessimistisch. Ich glaube, sie brauchen unsere Hilfe, die Unterstützung von uns Bessergestellten. Dann könnte, meine ich, Veränderung vielleicht schon gelingen. Auf der individuellen Ebene vielleicht durch das, was meine paar Bilder auf ihre Art versuchen.

Nämlich zuerst einmal überhaupt die Leute zu sehen, die den Dreck für uns machen. Sie nicht nur zu sehen, sondern sie anzusehen. Man muss sie ja nicht gleich zu Heiligen machen, aber man kann sie ansehen und das würdigen, was sie für uns tun. Das ist doch auch das, was man unter anderem aus den Hilferufen des Spitalpersonals heraushört: Die Politik und die Gesellschaft sehen nicht, was wir leisten. Wir fühlen uns alleingelassen. 

Können Ihre Heiligen-Bilder die Gesellschaft also ändern?

Natürlich ändere ich die Verhältnisse nicht, wenn ich jemanden ansehe. Wenn es so einfach wäre, hätten wir längst eine andere Welt. Und doch verschiebt sich Grundlegendes. Jemanden, den ich ansehe, verleihe ich Ansehen. In winzigem Masse vielleicht, durch ein blosses Lächeln, einen Dank oder einen Fünfliber, den ich dem gestressten Postboten zustecke. Aber es ist eine kleine Geste, die zeigt: Ich sehe, was du leistet, und ich bin dir dankbar dafür.

Und was kann oder sollte die Kirche tun?

Selbstverständlich müsste sich auch die Kirche fragen, ob es denn reicht, vom Himmelreich auf Erden nur zu reden. Oder ob man nicht etwas mehr dafür tun könnte. Ich sage nicht, die Kirche tue nichts. Aber sie hat schon mehr Übung darin, zu predigen als sich mutig einzumischen.

Was hat die Kirche – bei Lichte besehen – doch nicht schon alles aus der Hand gegeben: Fürs Klima kämpft heute die Klima-Jugend, für die Umwelt Greenpeace, für die Gefangenen Amnesty, für die Geflüchteten Ärzte ohne Grenzen, für die Transzendenz die Esoterik und für die Erklärung der Welt Google.

Dabei gehörte doch all das auch zum Kerngeschäft der Kirche. Die Kirche müsste wieder politischer werden. Und kompromissloser. Auch gegenüber sichtbarer und unsichtbarer Ungerechtigkeit in unserer allernächsten Nähe. Wären wir nur ein Zehntel so unbequem, wie man es uns von Jesus erzählt, die Welt sähe anders aus. 

 

*Daniel Lienhard ist reformiert und visueller Gestalter und Illustrator in Bregenz am Bodensee. Er lebte von 1981 bis 2018 in Zürich und Rorschach und arbeitet in den Bereichen Bildung, Kultur und Religion. Von 1990 bis 2010 war Lienhard Kirchgemeindepräsident der ökumenischen Predigerkirche in Zürich.

Seine nächste Ausstellung in Bern findet vom 19. November bis 9. Dezember 2023 im Haus der Religionen statt. Personen, welche die Ausstellung in ihrem Umfeld zeigen möchten, können die 13 Ausstellungstafeln kostenlos bei Daniel Lienhard erhalten. Kontakt: lienhard.illustrator@mailbox.org

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