Özlem Duvarci ist als Kind aus Kurdistan in die Schweiz geflüchtet. Foto: Pia Neuenschwander

«Menschen finden sich, egal wie alt sie sind»

Gespräch über Alter und Generationen

Dieses Jahr erkundet die Berner «Nacht der Religionen» den Austausch der Generationen in den Religionen. Die Alevitin Özlem Duvarci, 40, und der Student André Lourenço, 25, gestalten das Programm mit. Ein Interview über Generationen und die Weitergabe von Werten, Kultur und Tradition. 

Interview: Anouk Hiedl

Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Alter? 

Özlem Duvarci*: Sehr! Ich finde es schön, älter zu werden. Die Dinge werden relativer, man wird sensibler, feinhäutiger. Ideal wäre es, diesen Erfahrungsschatz und einen jungen Körper zu haben. 

André Lourenço**: Ich freue mich auf die Zeit nach dem Studium, wenn es konkreter wird. Mit zunehmendem Alter wird man ernster genommen, wahrgenommen. Die Gedanken reifen, und man pocht standhafter auf etwas. Ich zeige anderen meinen Respekt auch, indem ich nicht immer widerspreche, ausser es ist mir wirklich wichtig. Im Alter hat man da wohl etwas mehr Spielraum… 

Wann ist man jung, wann alt? 

AL: Jung ist man als Kind, bis man einen gewissen Reflexionsgrad erreicht hat. Wenn man sich der eigenen Verantwortung bewusst wird und diese auch wahrnimmt, ist man erwachsen. Und das bleibt lange so. Alt ist man, wenn die Kräfte nachlassen. Alter entspricht auch der jeweiligen gesellschaftliche Norm. Früher hat man etwa viel jünger geheiratet. Für mich spielt das Alter keine Rolle – Reflektiertheit bringt Respekt. Man beobachtet sich und seine Entwicklung. 

ÖD: Jung oder alt sein, ist nur körperlich. Mit 20 kann man etwas intellektuell erklären, man zweifelt aber. Mit dem Alter wird man sicherer. Man hat gelernt, was wichtig ist und akzeptiert sich. Da ist ein Kern, der bleibt. Ich probiere, das Beste aus und mit mir zu machen. 

Was umfasst eine Generation für Sie? 

ÖD: Ich habe meine Urgrosseltern gekannt, und meine Grossmutter hat sich um mich gekümmert, bis ich drei war, und ich fand, ich vertrage mich sehr gut mit alten Leuten. Heute realisiere ich, dass sie gleich alt war, wie ich, als ich Mutter wurde. Mit mir hatte sie Zeit, wie sie es mit ihren sieben Kindern und Feldarbeit, ohne Elektrizität und fliessendem Wasser nicht hatte – da war nichts einfach bereit. Ich habe sehr viel von ihr gelernt. 


Nun habe ich Kinder, stehe in der Mitte der Generationen und trage all das gleichzeitig in mir. Ich versuche, es weiterzugeben – meine Sprache, meine Kultur, meine Religion, meine Sicht auf die Welt. In Kurdistan lebten wir alle zusammen – da waren die Unterschiede zwischen den Generationen nicht gross. In der Schweiz wohnt man meist getrennt, das hebt Unterschiede zwischen den Generationen hervor. 

AL: Als ich in Bosnien lebte, ging ich nach der Schule immer zu Liljiana, einer älteren Frau. Wir kochten zusammen, spielten Karten, hörten Musik oder gingen spazieren. Sie hat mir einen einfachen Tanz beigebracht, den ich heute noch kann. Sie war eine Art Grossmutter für mich. Menschen finden sich, egal wie alt sie sind. 

Was macht Sie bzw. Ihre Generation aus? 

AL: Meine Mutter hat stets versucht herauszufinden, wie es mir geht und was mich glücklich macht. Auch meine Beobachtungen, was wo wie lief, haben mich geprägt. Wir sind oft umgezogen, ich habe als Kind in vier Ländern gelebt und stiess auf verschiedene Kulturen. Es gab viele Abschiede und Neuanfänge. Heute verstehe ich, dass Menschen im Leben kommen und gehen. Ich habe einen guten Freund, der Mönch wurde. Der Abschied war traurig, aber es ist ok so. Wie in der kontemplativen Übung, Gedanken wahrzunehmen, sie nicht zu werten und ziehen zu lassen. 

ÖD: Ich sehe mich in und zwischen allen Generationen. Man übernimmt alles und macht seine eigene Synthese daraus. Ich bin aus einer gemeinschaftlichen in eine individualisierte Gesellschaft gekommen. Beide haben Vor- und Nachteile. Ich versuche, das Beste daraus zu machen. Ich habe meine Hausaufgaben noch bei Gaslampenlicht gemacht und auf der Schreibmaschine schreiben gelernt. Später schrieb ich für die Unizeitung – nur, damit ich das Internet nutzen kann. Als die ersten Handys mit Antennen kamen, war ich erst dagegen, man kann auch anders kommunizieren. Nach dem Studium musste ich mir dann doch eines kaufen.  

Und wie war das? 

ÖD: Es war etwas Magisches. Heute sieht man sich sogar auf dem Bildschirm. Wie auf Zoom kann man die Mimik aber nicht gut lesen, sich nicht berühren. Diese Neuerungen kamen viral, doch sie sind künstlich. Manches hat Erwartungen geweckt, Anderes Ängste. Wenn man schon jung viele Situationen erlebt hat, lernt man, damit umzugehen und sich darin einzufinden. Und man erkennt das Menschliche in den Menschen, nicht nur das Kulturelle oder Religiöse. 

Wie gelingt das Miteinander verschiedener Generationen? 

ÖD: Es ist wichtig, dass sich die Generationen mischen und im Dialog verstehen. Wenn man tolerant ist und diskutieren kann, können wir einander viel geben. Sturheit macht das schwierig.  

AL: Man muss eine Art Übersetzungsfähigkeit haben, um sich irgendwo finden und verstehen zu können. Das kann anspruchsvoll sein. Ich versuche, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn jemand nicht auf mich eingeht, gehe ich mehr aufs Gegenüber ein. Das schafft Vertrauen. 

 

* Özlem Duvarci hat Philosophie und Religionswissenschaft studiert und ist Co-Präsidentin des Fördervereins Alevitische Kultur. 

** André Lourenço ist in Marokko geboren. Er studiert Religion in globaler Gegenwart und engagiert sich bei der reformierten Hochschulseelsorge in Bern. Im Haus der Religionen ist er am Projekt «Junge Coaches» beteiligt. 

 

Unter dem Motto «Hey, Alter! Von Religionen und Generationen» findet am Samstag, 13. November, die Nacht der Religionen in Bern statt.  

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