Die Schwelle zum neuen Jahr: frisch und unbeschrieben oder vertraut und vorgespurt?
Autorin: Jacqueline Keune, Theologin
Ein neues Jahr, besagen die Sprüche – wie ein gepflügtes Feld, das angesät, wie ein leerer Raum, der eingerichtet, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, auf das ein erstes Wort gesetzt werden kann. – Tatsächlich? Ein nigelnagelneues Jahr, oder nicht doch bloss eine neue Auflage des alten, eine weitere Strophe des vertraut-fremden Liedes?
Denn so wenig ich selber ein unbeschriebenes Blatt bin, so wenig ist es ein neues Jahr. Denn schon an seinem ersten Tag wird wieder einer für seine Kinder das Essen im Müll zusammensuchen, wieder einer seinen Sprengsatz in einem Auto zünden, wieder einer das Tau einer hoffnungslos überladenen Schaluppe losmachen, ohne mit der Wimper zu zucken. Und auch meine Schwester wird die Trauer um ihr Kind an keiner Silvestergarderobe ablegen können, sondern sie mitnehmen müssen.
Die Illusion vom Neuanfang
Das Neue ist immer auch das Alte, und der Anfang immer auch Illusion. Ich hätte das «gut» vergessen, schreibt mir die Frau, der ich ein «neues Jahr» gewünscht habe. Nein, das habe ich nicht, wohl aber das Gefühl, dass es schon viel wäre, überhaupt ein weiteres geschenkt zu bekommen. Denn: Wie kann ich mir sicher sein, dass es noch einmal ein Jahr für mich geben wird? Weil es bisher immer eines gegeben hat? Oder weil ich mir die Zukunft einfach nicht anders denken kann als die Gegenwart?
Max hat vergangenen Dezember auch gedacht: schön, noch ein halbes Jahr und dann den Abschluss in der Tasche und das Kätzchen bei sich daheim und mit der Liebe zum Zelten an die Sonne und einfach kopfüber ins Leben. Aber Anfang Juni ging’s dann nicht wie geplant in den Süden, sondern von einer Stunde auf die andere in ungleich himmlischere Gefilde. Ich habe kein Jahr zu keiner Zeit auf sicher, auch wenn es jeden Morgen noch danach ausschauen mag. Und auch von dem, was sich da langsam am Aufblättern ist, ist mir keine einzige Stunde gewiss. Nur Augenblick um Augenblick ist es meines, das Jahr, das Leben.
Es gibt viele und es gibt gute Gründe, zu sagen: Das Ende ist bereits an seinem Anfang ablesbar. Aber es gibt auch Grund, solcher Rede ins Wort zu fallen. Ja, jedes Jahr Krise und Krieg und Krebs. Aber jedes Jahr auch berührt und bewegt, Träume und Trost, Zauber und Zorn, Widerstand und Wunder. Und war ich nicht am Schluss eines jeden Jahres eine Andere als an dessen Beginn? Und hat sich zwischen den ewig gleichen Zeilen nicht immer auch viel Unverdientes und Unverhofftes eingeschrieben?
Trost und Hoffnung
Die kalendarische Jahreswende fällt mitten in die kirchliche Weihnachtszeit, und es tröstet an jeder Kante eines neuen Jahres, dass sich meine Zeit nicht post Herodes, nicht post Pol Pot, nicht post al-Assad natum, sondern post Christum natum rechnet – 2021 Jahre nach der Geburt dieses Kindes in einem Stall. Ja, spätestens an Neujahr wird wieder ein Herrscher Unschuldigen nach dem Leben trachten, werden wieder Habenichtse auf einem nächtlichen Feld frieren. Aber spätestens dann werden Armgemachte den Himmel auch wieder rühmen für das, was sie an Hoffnung gehört und geschaut haben. Werden Menschen der Gerechtigkeit wieder Unterschlupf gewähren. Werden Menschen wieder nach Alternativen zu einem Leben des Konsums suchen. Werden Menschen wieder die Vernunft eines Jesaja mit seinen umgeschmiedeten Schwertern der Unvernunft einer durch und durch kapitalistischen Weltunordnung entgegenhalten.
Unter welchem Himmel ich selber gehen werde im neuen Jahr, in welcher Hoffnung ich Wurzeln schlagen, welchen Mut ich finden, welche Feigheit ich bewohnen oder ob ich gar der Ewigkeit eingeschrieben werde, weiss ich nicht. Aber ich weiss, dass dieses Kind im Stall auch meine ganze Existenz erfassen will. Und im Blick auf es will ich zum 59. Mal neues Jahrland betreten und die Verheissung nicht aus den Ohren und den Stern nicht aus den Augen verlieren.