Der Baum, ein Symbol der Fülle und ein Geschenk, zu dem wir Sorge tragen müssen. / Foto: D. Jameson Rage, unsplash.com

«Nachhaltigkeit» ist keiner der 99 Namen Gottes

Es gilt, typisch menschliche Verhaltensweisen zu regulieren

Was wir mit dem Reichtum auf der Erde machen, liegt in unserer Hand. Theologische Gedanken über göttliches Schöpfungshandeln und den menschlichen Umgang damit.

von Michael Hartlieb

Zum Einstieg eine Übung für einen kurzen Moment des Glücks:

  1. Verlassen Sie Ihr Haus und gehen Sie zu einem grossen Laubbaum.
  2. Stellen Sie sich in seinen Schatten und werden Sie ruhig.
  3. Atmen Sie tief ein und aus. Hören Sie auf das Rauschen des Windes in den Blättern.
  4. Betrachten Sie den Baum. Kein Blatt gleicht dem anderen, kein Ast kommt ein zweites Mal vor.
  5. Lauschen Sie auf die Vögel und andere Tiere am und im Baum.
  6. Schauen Sie genau hin: Entdecken Sie Insekten auf den Blättern und Ästen, Moos am Wurzelwerk und vielleicht auch Pflanzen, die den Baum als Gerüst zum Wachsen benutzen … 
  7. Lassen Sie dies alles einige Minuten auf sich wirken.
  8. Halten Sie sich vor Augen: Sie sind ein Teil dieser wunderbaren, unermesslichen Lebens- und Seinsfülle und mit allem verbunden, was ist.

Vielleicht erleben Sie bei dieser Übung einen «Flügelschlag des Herzens», wie ihn Augustinus beschreibt: Eine mystische Erfahrung der Fülle Gottes, die sich in seiner Schöpfung alltäglich erleben, wenn auch niemals ganz erfassen lässt.

Gott schenkt ohne Erwartung einer Gegenleistung. Das macht ihn als Schöpfergott aus.

Der Gott der Juden und Jüdinnen, Christ:innen und Muslim:innen ist kein Buchhalter, der seine Gaben streng rationiert und im Zweifel damit geizt. Im Gegenteil. Das theologische Wort «Gnade» erfasst unsere Erfahrung, dass Gott ohne Erwartung einer Gegenleistung in äusserstem Reichtum gibt. Das macht ihn als Schöpfergott aus – und ist für uns Menschen ein nur schwer verständliches Konzept. Wir ticken anders.

«Krone der Schöpfung»?

Die Bibel schildert, wie Gott dem Menschen die liebevolle Verwaltung (!) seiner Schöpfung aufträgt (Gen 1,28). Diese Passage wurde in der beginnenden Neuzeit mit grossem Interesse, allerdings zunehmend egozentrisch gelesen. Der Mensch sieht sich bald als «Krone der Schöpfung» und damit beauftragt, das Schöpfungswerk Gottes weiterzuführen.

Für seine «Schöpfungen» ist der Mensch allerdings auf Ressourcen angewiesen, die er selbst nicht schaffen kann – mit verhängnisvollen Folgen, die bald offensichtlich werden. So sind die Länder Europas im frühen 18. Jahrhundert vielerorts entwaldet. Kochen, Heizen, Hausbau, Metallverhüttung – all das fordert Unmengen an Holz. Es ist schliesslich Hans Carl von Carlowitz, der im Jahr 1713 in einem Buch zur Forstwirtschaft folgende Regel aufstellt: Künftig soll nur so viel Holz geschlagen werden, «dass es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe, / weiln es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse [im Sinne von Existenz, M.H.] nicht bleiben mag.»

Der Unterschied zwischen dem Prinzip der Nachhaltigkeit und dem Schöpfungshandeln Gottes könnte grösser nicht sein!

Von Carlowitz erfindet mit diesem Satz das Prinzip der Nachhaltigkeit: Man kontrolliert heute das eigene Verhalten, um morgen eine Existenzgrundlage zu haben. Als Handlungsprinzip dient es also dazu, «typisch menschliches» Verhalten in seinen Auswirkungen zu regulieren. Der Unterschied zum Schöpfungshandeln Gottes könnte grösser nicht sein!

Der Papst und ein Psalm

In seiner Enzyklika «Laudato si’» gibt Papst Franziskus der Nachhaltigkeit eine weitere Stossrichtung: «Die dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen, schliesst die Sorge ein, die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen» (Abs. 13). Das Bild des «gemeinsamen Hauses» greift dabei ein zentrales Bild der Bibel auf: «Du hüllst dich in Licht wie in einen Mantel, du spannst den Himmel aus gleich einem Zelt. Du verankerst die Balken deiner Wohnung im Wasser.» So beschreibt Psalm 104 die Schöpfung als Haus oder als Palast Gottes.

Wir Menschen können Gott nicht ersetzen, sondern wir sind auf die Fülle seiner Gaben angewiesen, damit wir gemeinsam die Dinge zum Guten ändern können. Im gleichen Abschnitt wird deutlich, was damit aus christlicher Sicht gemeint ist. Es muss darum gehen, die «dramatischen Folgen der Umweltzerstörung im Leben der Ärmsten der Welt zu lösen».

Ein Leben im Sinne der Nachhaltigkeit bedeutet, alle Menschen im Blick zu haben – sonst zerstören wir als Menschheit neben unserer physischen Existenzgrundlage auch noch unsere moralische.

Ein Leben im Sinne der Nachhaltigkeit bedeutet, alle Menschen im Blick zu haben.

Kehren wir zu unserem Baum zurück. Er ist ein Symbol der Fülle, das vielleicht noch unsere Enkelkinder sehen werden. Er steht für eine Welt reichen Lebens, er ist ein uns gegebenes Geschenk, und wir müssen zugleich für ihn Sorge tragen. Im Kleinen für den Baum, im Grossen für die Welt.

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