Zwischen Alleine-sein-müssen und Alleine-sein-Dürfen besteht ein grosser Unterschied. Dazwischen liegen Welten.
Neulich, in einem Pikettdienst, wurde ich am Abend von einer Pflegenden gerufen. Ein junger Mann, der scheinbar auf der Strasse lebte – dessen Identität nicht bekannt war und deshalb auch keine Angehörigen verständigt werden konnten –, lag «bewusstlos» und sterbend auf der Intensivstation. «Der Mann kann doch nicht alleine sterben. Könntest du nicht kommen?», fragte mich die junge Pflegende am Telefon. Auf dem Weg zur Abteilung klangen ihre Worte bei mir nach. Diese Achtsamkeit und Wertschätzung, dem Leben im Allgemeinen und speziell diesem Mann gegenüber, hat mich tief berührt. So standen wir dann zusammen am Krankenbett, bis der Mann nach kurzer Zeit verstarb. Beide waren wir froh, dass wir nicht alleine sein mussten. Durch das Gespräch und die Präsenz konnten wir der Seele und auch unserer eigenen Seele Sorge tragen.
Häufig, insbesondere bei nächtlichen Piketteinsätzen, erlebe ich den Austausch mit dem Pflegepersonal oder dem Ärzteteam als sehr wertvoll. Das Gefühl des Nicht-alleine-sein-Müssens unterstützt mich bei meiner Arbeit. Es hilft in Situationen, da sein zu können, mit aushalten zu können und handlungsfähig zu bleiben, selbst in Momenten, die himmelschreiend traurig sind.
Nach solchen Einsätzen schätze ich das Alleine-sein-Dürfen wiederum sehr. Eine Pause, in der ich Ruhe finden und das Erlebte für mich ordnen und «verdauen» kann. Sei es auf dem Spaziergang nach Hause oder bei einem kurzen Moment in der leeren Kirche, wo ich eine Kerze anzünde.
Zwischen Alleine-sein-Müssen und Alleine-sein-Dürfen liegen Welten. Ich wünsche uns allen, dass wir solche Welten füllen und gestalten können. Die Kraft, dass wir das Alleinsein aushalten. Den Mut, dass wir es wagen, Momente von Alleine-sein-Dürfen einzufordern. Damit unsere Seele immer wieder Kraft tanken kann und genügend Energie hat für den Alltag.
Patrick Schafer,
Seelsorger im Inselspital und Co-Leiter des Pastoralraums Region Bern
Kolumnen aus der Inselspitalseelsorge im Überblick