Da war die Welt noch heil: Mitja und seine Familie in Odessa - kurz vor Kriegsausbruch. Foto: zVg.

«Nicht die Sprache definiert die Einstellung»

Sonja und Mitja - Mutter und Sohn erleben den Krieg in der Ukraine

Sophie Schudel hat Sonja und Mitja vor rund 20 Jahren während ihres Studienaustauschs in der Ukraine kennengelernt. Der warmherzige und klare Blick der beiden auf die Welt beeindruckt sie noch heute.

Aufgezeichnet und übersetzt von Sophie Schudel

Sonja (67) lebte die letzten paar Jahre in Irpin bei Kiew, während ihr Sohn Mitja (39), seine Frau Nastja (36) und Sohn Matwej (9) in der südlichen Hafenstadt Odessa wohnten. Einen Tag nach Kriegsausbruch flüchteten sie zusammen nach Lwiw in die Westukraine. Mitja überzeugt seine Familie, nach Krakau weiterzufahren, wo sie im Haus von Freunden unterkommen. Er selber darf nicht ausreisen und bleibt zunächst in Lwiw, wo er sich als Freiwilliger für die Betreuung der Flüchtlinge engagiert, die aus dem Osten in die Stadt strömen.

Arbeit für die Caritas Odessa

Mitja erzählt: «Nach einigen Wochen in Lwiw kam ein Brief von einer Lesegesellschaft in Polen mit der Bitte, Bücher zu schicken, denn es gebe nicht genug Kinderbücher auf Ukrainisch für alle Kinder. Ich hatte in Odessa einen kleinen Kinderbuchverlag und bin also zurück, um alles, was wir noch auf Lager hatten, nach Polen zu schicken. Und weil es auch in Odessa viel zu tun gab, bin ich geblieben. Ich arbeite jetzt für Caritas Odessa. Wir verteilen Hilfsgüter und kümmern uns um die vielen Geflüchteten aus der Ostukraine. Es werden jeden Tag mehr, obwohl sich Odessa in der Risikozone befindet, der Interessenzone der russischen Armee.

Wir arbeiten von früh bis spät, und das ist gut, dann haben wir weniger Zeit, uns Sorgen zu machen. Ich ziehe Kraft aus meiner Tätigkeit als Helfer. Ich tue, was jetzt, hier, nötig ist, und ich bin von wunderbaren Menschen umgeben. Die Trennung von meiner Familie ist natürlich schwer zu ertragen. Daran kann ich mich nicht gewöhnen. Ich sehe sie nur am Bildschirm. Meine Frau ist Russin. Wir haben als Familie einige Jahre halb in Moskau, halb in Odessa gelebt. Als unser Sohn eingeschult wurde, haben wir uns für Odessa entschieden. Man kann hier freier und besser atmen. Es gibt diese staatliche Willkür nicht. Man kann sich entspannen. Und für das Kind ist das Meer wunderbar. Es ist wichtig für uns, dass ihr über uns schreibt. Wir dürfen uns alle nicht an den Krieg gewöhnen.»

Aufnahme in Polen

Seine Mutter Sonja erzählt: «Wir sind in Polen enorm grosszügig aufgenommen worden und haben uns eingelebt. Wir sind so dankbar für die Unterstützung! Matwej geht in die Schule. Ich suche Arbeit. Ich bin Redaktorin für Russisch. Das wird in der Ukraine nicht mehr gebraucht werden, ich werde etwas anderes suchen müssen. Viele Menschen in der Ukraine sprechen Russisch, nicht Ukrainisch. Aber nicht die Sprache definiert die Haltung oder das Weltbild eines Menschen. Meine Muttersprache ist Russisch, und ich habe mich immer als ukrainische Staatsbürgerin gefühlt. Das hat nichts mit Patriotismus zu tun. Wenn die Ukraine totalitär und menschenverachtend gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich ausgereist. Aber in den vergangenen 18 Jahren war die Ukraine wirklich besser als Russland. Sie orientierte sich an menschlichen, an europäischen Werten.

Junge Menschen gehen öfters zum Ukrainischen über, auch wenn sie aus russischsprachigen Familien kommen. Nach dem Krieg wird die absolute Mehrheit zum Ukrainischen übergehen. Die Sprache kann ja nichts dafür, aber es ist verständlich, warum viele die russische Sprache nicht mehr hören wollen. Ich habe eine enge Freundin, eine Dichterin, die aufgehört hat, auf Russisch zu schreiben, und nur noch auf Ukrainisch schreibt. Ich würde es vorziehen, wenn die Verantwortung persönlich bliebe, und nicht kollektiv, nicht von Geografie oder Sprache abhängig. Für mich ist jeder einzelne Mensch wichtig. Die Zugehörigkeit zu einer Nationalität oder einem Land sind für mich unwichtig. Ich hoffe, dass wir uns bald in der Ukraine wiedersehen werden.

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