Romantische Gefühle sind ihr fremd: Natascha Osterwalder. Foto: zVg

Niemals Schmetterlinge im Bauch

Natascha Osterwalder bezeichnet sich selbst als asexuell

Händchenhalten und mit jemandem körperlich intim sein: nichts für Natascha Osterwalder. Die 21-Jährige bezeichnet sich als aromantisch und als asexuell – und als non-binäres Demigirl: Manchmal fühlt sie sich als Mann. All das behält sie bei ihrem vielfältigen (frei-)kirchlichen Engagement jedoch meist für sich.

von Marcel Friedli

Rote Rosen am Valentinstag bedeuten Natascha Osterwalder nichts. Und an die grosse Liebe glaubt die 21-Jährige nicht. Denn die Vorstellung, mit jemandem durchs Leben zu gehen, bis ans Ende ihrer Tage: Das entlockt ihr ein fragendes Lächeln. Freundschaftliche Gefühle, das ist für Natascha das Höchste der Gefühle. «Oder ein bisschen mehr», sagt sie. «Keine klassische Freundschaft: zwar Gefühle für jemanden – aber keine romantischen, keine Verliebtheits-Gefühle.»

Fremd

Bei der Ostschweizerin kommt zur Aromantik ein weiterer Aspekt dazu: Sex ist für sie nicht wichtig. Sie spürt kein Kribbeln, kein Verlangen, kein Brennen. Wonach sich andere verzehren und viel Zeit einsetzen, um körperliche Nähe und Intimität zu erleben, ist ihr fremd. Sie bezeichnet sich als asexuell. Zwar findet die junge Frau den einen oder anderen Mann hübsch. «Aber ich kann nie sagen: Den find ich total heiss. Und ich habe mich nie in Träume hineingeschmachtet und mich nach einem Mann verzehrt.»

Darum hat Natascha eine Zeitlang vermutet, dass ihr Frauen gefallen. Doch sie verspürt auch bei ihnen weder romantische Gefühle noch sexuelles Verlangen. «Ich fühle mich manchmal etwas fremd in dieser Welt, in der sich so viel um die vermeintlich perfekte Liebe und schwindelerregenden Sex dreht.»

Ungeschminkt

Seit Natascha klar ist, dass sie aromantisch und asexuell (siehe Kasten) ist, kommt eine weitere Frage dazu: Welchem Geschlecht ordne ich mich zu? Sie bekundet Mühe mit Erwartungen, die an sie in der Zuordnung als Frau herangetragen werden: In der Lehre als Drogistin wird ihr nahegelegt, sich täglich zu schminken. «Diese Erwartung habe ich eine Zeitlang erfüllt. Doch ich fühlte mich nicht richtig wohl, es fühlte sich nicht echt an.» Das ist einer der Gründe, dass sie diese Ausbildung abgebrochen hat.

«Ich mag es nicht, mich zu schminken», sagt Natascha, «geschminkt fühle ich mich verkleidet. Ohne Schminke fühle ich mich mindestens genau so hübsch.» Sie beschäftige sich lieber mit ihren langen, lockigen Haaren oder mit denen von Freundinnen und probiere Frisuren aus. «Auch mein Kleidungsstil ist oft ziemlich feminin, und mir gefallen weibliche Accessoires – doch ich fühle mich nicht als klassische Frau.»

Natascha bezeichnet sich als Demigirl (siehe Kasten). Ab und zu zähmt sie ihre langen, braunen Locken, indem sie diese in einem Kapuzenpulli versteckt, zieht weite Hosen an: Dann geht sie locker als Mann durch. Die 21-Jährige ist nun als Schreinerin tätig, also in einem Umfeld, das als männlich geprägt gilt. «In Arbeiterhosen und wenn die Holzspäne fliegen, fühle ich mich wohler als in der Drogerie hinter dem Verkaufstresen.»

Befreit

Seit sich Nataschas latentes Unbehagen in der Erkenntnis aufgelöst hat, ein aromantisch-asexuelles Demigirl zu sein, fühlt sie sich befreit. «Im Internet bin ich auf aromantische und asexuell empfindende Menschen gestossen und habe gemerkt: Genau, so ist es bei mir! Es gibt andere, die ähnlich wie ich sind.»

Das Gefühl, mit ihrem Empfinden nicht alleine zu sein, hat sich verstärkt, seit Natascha auch im echten Leben Menschen kennengelernt hat, die sich als aromantisch und asexuell empfinden. Kreuz und quer durch die Schweiz reist sie für Treffen des Vereins aroace (siehe Kasten). «Über die Thematik sprechen wir oft nur am Rande, zum Beispiel bei der Rückreise im Zug. Worte sind kaum nötig. Wir wissen, was Sache ist. Und es tut so gut zu erfahren, dass andere gleich oder ähnlich fühlen.»

Engagiert

Die roten Rosen und die überschäumenden Gefühle fehlen Natascha nicht. «Ich bin mit so viel anderem beschäftigt, dass Sex keinen Platz in meinem Leben hat», sagt sie «Ich vermisse nichts. Mein Leben ist auch so bunt. Ich bin glücklich so.»

Statt nach der grossen Liebe und erotischen Abenteuern zu suchen, engagiert sie sich in zwei Kirchen: zum einen als Leiterin in der Cevi, in der evangelisch-reformierten Kirche; dies seit acht Jahren. Zum anderen besucht sie regelmässig den Jugendtreff der St. Galler Freikirche Stami. Katholisch aufgewachsen, pflegt Natascha auch diese Tradition: vor allem an Ostern und Weihnachten besucht sie die Messe.

In der Freikirche wird ihre aromantisch-asexuelle Definition so interpretiert: dass sie ledig bleiben will. Dass sie sich als non-binär und genderfluid bezeichnet, können die meisten in den (frei-)kirchlichen Kreisen nicht nachvollziehen. «Am Anfang versuchte ich, ihnen das nahezubringen, auch das Thema Transidentität. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass sie ihr Welt- und Menschenbild nicht hinterfragen wollen. Und ich konzentriere mich aufs Spirituelle und auf meine Einsätze als Leiterin.»

Offen

Wer weiss, dass Natascha ohne Sex und Partner:in lebt, ordnet dies manchmal im Konzept des Zölibats ein. Für sie indes stimmt das nur bedingt. Denn ganz ausschliessen will sie nichts: Auch eine Heirat käme für sie allenfalls in Frage: «Das wäre dann eine Art Zweckehe.» Wobei sich Natascha in letzter Zeit ab und zu fragt, wie sie wohl mit Kindern umgehen würde. «Ob das jetzt ein Kinderwunsch ist?», sagt sie und lacht. «Ich weiss es nicht – vielleicht ist es eher ein Gedankenexperiment.»
 

Demigirls und -boys
Asexualität bedeutet, keine oder wenig sexuelle Anziehung zu empfinden; respektive wenig oder kaum Bedürfnis nach sexuellem Kontakt zu hegen. Laut Schätzungen sind etwa ein Prozent der Bevölkerung asexuell. Unter dem Begriff Aromantik fasst man Menschen zusammen, die wenig oder kaum romantisch veranlagt sind: Sie verlieben sich nicht, verspüren kein Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung, schreiben keine schwärmerisch-verklärten Briefe und Nachrichten, wünschen keine oder kaum Zärtlichkeiten. Demigirls wie Natascha (siehe Haupttext) ordnen sich als Unterkategorie dem non-binären Spektrum zu. Sie fühlen sich teilweise, aber nicht ganz als Frau. In welchem Grad dies der Fall ist, variiert von Person zu Person. Das männliche Pendant zum Demigirl ist der Demiboy. Er definiert sich teils als Mann. Sowohl Demiboy als auch Demigirl fühlen sich – im Gegensatz zu transidenten Menschen – wohl genug im eigenen Geschlecht, um es zu behalten. Die Begriffe Demiboy und Demigirl sind offengehalten, um sich möglichst frei zu definieren. Damit verpasst man sich kein Label, sorgt aber doch für ein Gefühl von Zugehörigkeit.
 

Infos zu Begriffen und Definitionen: www.queer-lexikon.net, www.lgbtqia.wiki

 

Bern wird bunt
Am 29. Juli erhalten queere Menschen wie Natascha ein Gesicht: Dann findet die Bern Pride statt. Lesbische schwule, bisexuelle, trans, inter- und asexuelle, aromantische Menschen schreiten durch die Gassen der Hauptstadt – und halten die bunten Regenbogenfahnen ihrer Community in die Höhe. Seit einem Jahr gibt es einen Verein, der sich für asexuelle und aromantische Menschen wie Natascha einsetzt: aroace. Er bietet ihnen einen sicheren Ort, um sich auszutauschen und zu vernetzen. Ausserdem vertritt er sie gegenüber Medien und Öffentlichkeit – und trägt so dazu bei, diese sichtbar zu machen. arocace betreibt auf seiner Website verschiedene Chat-Gruppen und organisiert einmal pro Monat ein Treffen.

Weitere Infos: www.bernpride.ch, www.aroace.ch

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