Natalija Schewtschenko mit ihrer zehnjährigen Enkelin Zlata. Die Mallehrerin aus Kiew lebt nun im Pfarrhaus in Huttwil. Foto: Ruben Sprich

«Niemand will diesen Krieg»

Eine ukrainische Familie im Pfarrhaus von Huttwil

Ins Pfarrhaus von Huttwil ist eine ukrainische Familie eingezogen. Die katholische Kirchgemeinde Langenthal hatte das leerstehende Haus zur Beherbergung von Geflüchteten angeboten.

Von Antonio Suárez / Marina Spycher (Dolmetscherin)

Die achtköpfige Flüchtlingsfamilie aus Kiew ist froh und dankbar für die Hilfe. Bereits am dritten Kriegstag hatte sie ihre Koffer gepackt. Die Flucht über sechs Länder führte sie eher zufällig ins Oberaargau. Die Hoffnung auf ein Ende des Kriegs bleibt vage. Nur Putins Sturz könne ihn beenden, ist man überzeugt.

«Das Leben war sehr gut und ruhig bei uns in der Ukraine», schildert Natalija Schewtschenko ihre persönliche Situation vor dem schicksalshaften Februartag, als Putins Armee ihr Land angriff. Die geschiedene Modedesignerin und Mallehrerin lebte bis vor kurzem in einer Zweizimmerwohnung eines 17-stöckigen Wohnhochhauses im pittoresken Kiewer Stadtviertel Rusanivka, bekannt als «Venedig von Kiew» wegen der vielen Wasserkanäle des Dnjepr, die es wie Adern durchziehen. Schewtschenko gab Malunterricht für Kinder und Kunsttherapiestunden für Erwachsene. Am 6. März hätte ihr nächster Malkurs stattfinden sollen. Doch dazu kam es nicht. Der Krieg riss sie jäh aus dem Alltag.

«Ich interessiere mich sehr für Kunst- und Maltherapie. Mein Grossvater stammte aus Tibet. Meine Kunst hat mit diesen Wurzeln zu tun… So war mein Leben. Immerzu war ich beschäftigt.» Mit diesen Worten beginnen die Schilderungen der russischsprachigen Kiewerin, die über ihren anderen Grossvater auch russischer Abstammung ist. Sie erzählt ihre Geschichte an einem Holzesstisch des Pfarrhauses in Huttwil, rund 2000 Kilometer von ihrer Heimatstadt entfernt. Sie spricht mit ruhigen Handbewegungen und einem freundlichen Lächeln im Gesicht. Ins leerstehende Pfarrhaus zog sie am 23. März ein, genau einen Monat nach Kriegsausbruch. Sie kam gemeinsam mit Sohn Dimitrij, der Schwiegertochter Irina und den fünf Enkelkindern.

Die Schweiz hatte sie schon einmal als Touristin bereist. Sie mag die Natur und die Alpen und hat ein Faible für Milchprodukte. Davon gibt es in dieser ländlichen Gegend reichlich. Manchmal geht sie mit den Enkelkindern spazieren und betrachtet die Pferde und Kühe auf den umliegenden Höfen und Weiden. «Hier ist es sehr gemütlich. Es ist das Beste, was uns passieren konnte», ist sie überzeugt.

Leerstehendes Pfarrhaus

Die Bruder-Klaus-Kirche und das anliegende Pfarrhaus gehören der Kirchenstiftung Huttwil. Die Pfarrei Huttwil ist eine von vier Pfarrgemeinden in der katholischen Kirchgemeinde Langenthal. Deren Präsident ist Philippe Groux. Als die ersten ukrainischen Kriegsflüchtlinge die Schweizer Grenze passierten, ergriff er die Initiative und bat den Stiftungsrat, das leerstehende Haus als Unterkunft zur Verfügung zu stellen, worauf die Eigentümer dem Anliegen umgehend zustimmten. Danach veröffentlichte die Kirchgemeinde eine Medienmitteilung, die vom «Unter-Emmentaler» aufgegriffen wurde. Und so machte die Nachricht in der Region schnell die Runde, bis Tierärztin Natalija Politova aus dem benachbarten Kleindietwil davon erfuhr.

Die gebürtige Ukrainerin wusste, dass viele ihrer Landsleute auf der Flucht waren und eine Unterkunft suchten. Und als der Kontakt zur Familie von Natalija Schewtschenko zustande kam, waren alsbald geeignete Abnehmer für die seit zwei Jahren leerstehende Liegenschaft gefunden.

Um das Wohnhaus instand zu setzen und nutzungskonform auszustatten, wurden innert kurzer Zeit alle Hebel in Bewegung gesetzt. Rund 30 Freiwillige packten mit an. Die Abwartsfamilie unterzog es einer gründlichen Reinigung; Pfarreiratsmitglieder und Kirchgemeindeangestellte schafften Mobiliar, Küchenutensilien, Bettwäsche und Spielsachen heran. Vieles davon kam aus dem Pastoralraum Niederamt in Solothurn, wo Eva Wegmüller als Leitungsassistentin amtet. Die Stellenleiterin der Fachstelle Diakonie und Soziale Arbeit der römisch-katholischen Synode des Kantons Solothurn, die selbst evangelisch ist und künftig der reformierten Kirchgemeinde Huttwil als Kirchgemeindepräsidentin vorstehen wird, hat genauso wie Philippe Groux selbst Hand anlegt, um das Pfarrhaus für die Wohnnutzung zu ertüchtigen. Oben gibt es fünf Schlafzimmer und zwei Badezimmer, und im Erdgeschoss befinden sich ein Ess- und Wohnzimmer, eine Küche und eine Toilette. Davon abgetrennt sind zwei Büroräume der Pfarrei, die von der Kirche weiterhin genutzt werden.

Das Einzige, was noch fehlt, sind Vorhänge. Dafür hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Alles in allem entstanden Kosten von etwa 1000 Franken, die von der Kirchgemeinde getragen werden. Auf einen Mietzins wird so lange verzichtet, bis die Familie auf Asyl- und Sozialhilfe nicht mehr angewiesen ist.

Fünf Länder in sieben Tagen

Als Schewtschenkos Familie über Vermittlerin Politova vom Haus erfuhr, befand sie sich gerade in München. Die Unterbringungsmöglichkeit bewog sie, Mitte März in die Schweiz zu kommen. Nach Aufenthalten im Asylzentrum von Zürich, wo Reisedokumente abgegeben und Papiere ausgefüllt wurden, sowie in Basel, wo die Migrationsbehörden Passfotos erstellten und Fingerabdrücke abnahmen, kam die Familie schliesslich im Oberaargau an. «Wir haben ein solch schönes Haus bekommen. Ich werde immer dankbar dafür sein. Und auch die Kinder sind sehr froh darüber, hier zu sein», freut sich Schewtschenko. Nach dem Besuch einer Willkommensklasse wurden die drei schulpflichtigen Kinder am 5. April eingeschult. Die Integrationsklasse leitete die ukrainischstämmige Englischlehrerin Marina Spycher, die am Oberstufenzentrum von Kleindietwil lehrt und mittlerweile mit der Familie befreundet ist.


Dass Schewtschenkos Familie im Herzen des Schweizer Mittellandes den Zielhafen ihrer Reise fand, war mehr oder weniger Zufall. Vor der Einreise in die Schweiz hatte die achtköpfige Familie in einem VW-Multivan eine siebentägige Fahrt mit ebenso vielen Hotelübernachtungen in fünf verschiedenen Ländern zurückgelegt. Angefangen hatte die Flucht am dritten Kriegstag. Im Morgengrauen des 24. Februar hatten Detonationen und das darauffolgende Sirenengeheul die Familie aus dem Schlaf gerissen. «Zwischen vier und fünf Uhr morgens hörten wir plötzlich Explosionen. Und dann eine Sirene. Die Kinder hatten Angst. Niemand hielt es für möglich, dass ein Krieg losbrach. Unsere grösste Sorge war die Sicherheit der Kinder. Wir blieben noch drei Tage in Kiew, und am dritten entschlossen wir uns zur Flucht», erinnert sich Kunsttherapeutin Schewtschenko, die früher auch einmal einen Coiffeursalon betrieb. «Wir dachten alle, dass der Krieg nur ein paar Tage dauern würde. Doch wegen der Kinder erkannten wir, dass es zu gefährlich war, in Kiew zu bleiben.»

Getötete auf den Strassen

Auslöser der Flucht war das Gefühl der Unsicherheit. Nur fünfhundert Meter von seinem Haus im Stadtteil Kureniwka entfernt hatte Familienvater und Sohn Dimitrij Pilipenko erste Gefechtstote auf der Strasse gesehen. Dasselbe Bild zeigte sich auch später, als die Familie ihr zuhause verliess. «Als wir von Kiew losfuhren, passierten wir verschiedene Kontrollposten, wo wir mit Decken verhüllte Leichen sahen», erinnert sich Schwiegertochter Irina Pilipenko. In den ersten Tagen war die Angst gross vor russischen Saboteuren ohne erkennbare Abzeichen, welche die Stadt zu infiltrieren drohten. Ziel der Flucht war die Westukraine, wie bei den meisten Flüchtenden. So fuhr die Familie in ein Dorf namens Klischkiwzi östlich der Stadt Tschernowitz, unweit der rumänischen Grenze in der Südwestukraine. Hier fand sie Unterschlupf bei Irinas Onkel. Dieselbe Reise hatte Schewtschenkos Familie schon einmal gemacht, vor 36 Jahren, als das berüchtigte Kernkraftwerk Tschernobyl havariert war. Schon damals hatte eine Katastrophe sie in die Flucht geschlagen.

Dort angekommen, engagierte sich Dmitrij in der Landesverteidigung. «Mein Sohn unternahm alles, was in seiner Macht stand, um der ukrainischen Armee zu helfen», erzählt Mutter Natalija. «Er fuhr zwischen der Westukraine und Kiew hin und her und transportierte alle möglichen Dinge wie Medikamente. Ich war in ständiger Sorge, dass ihm etwas zustossen könnte.» Dazu kam die Angst um die fehlende Fahrpraxis des 39-Jährigen, fügt dessen Gattin Irina an. Denn Dimitrij hatte erst drei Monate zuvor seinen Fahrausweis erworben und ein Auto angeschafft. Eine Woche blieb die Familie im Dorf von Irinas Onkel, ehe sie beschloss, das Land ganz zu verlassen. Ein erster Versuch, die Landesgrenze südlich von Tschernowitz zu passieren, schlug wegen langer Staus fehl. Erst beim zweiten Mal gelang es, allerdings an einem Grenzübergang weiter östlich Richtung Moldau. Von da an ging die Reise weiter über Rumänien, Ungarn, Österreich bis nach Deutschland, wo München die vorerst letzte Station war, ehe die Schweiz schliesslich zum Zielland wurde.

Unbegreiflicher Krieg zwischen Brudervölkern

Sosehr sich Natalija Schewtschenko freut über die freundliche Aufnahme in der Fremde, hat sie doch Sehnsucht nach ihrer Heimat. «Mein ganzes Leben ist dortgeblieben. Ich vermisse meine Malstunden und Kunsttherapien», sagt sie. «Wir möchten alle wieder nachhause. Niemand will diesen Krieg.» Gott werde über unser Schicksal entscheiden, fügt sie hinzu. Wie der Krieg ausgeht, bleibt ungewiss: «Niemand weiss, wann er zu Ende sein wird. Alle hoffen, dass Putin etwas zustösst. Erst dann ist ein dauerhafter Frieden möglich», meint Schewtschenko. «Das Ganze kommt mir wie ein Albtraum vor. Für uns alle ist es unmöglich zu verstehen, wie es so weit kommen konnte.» Die Ukrainerin begreift den Waffengang als Resultat von Wladimir Putins Kriegstreiberei: «Wir sind russischsprachige Ukrainer. Wir sprechen dieselbe Sprache wie die Russen. Unsere beiden Völker sind sehr tief miteinander verbunden. Ich selbst habe Verwandte in Russland. Niemand dachte, dass sich zwei Brüdernationen so bekämpfen könnten.» 


Um ihre Entrüstung zu unterstreichen, evoziert Schewtschenko die Vergangenheit: «Vor über siebzig Jahren kämpften wir gemeinsam im Zweiten Weltkrieg. Unsere Grossväter kämpften Seite an Seite gegen den Faschismus. Und auf einmal bekriegen sich Brüder. Wir können das nicht verstehen.» Schuld an dieser Situation sei die Propaganda: «Es ist unglaublich, was im russischen Staatsfernsehen erzählt wird. Dort heisst es, dass die Ukrainer von Nationalisten beschützt werden müssten. Welche ukrainischen Nationalisten denn?», empört sie sich, und fügt erklärend an: «Alles, was im russischen Fernsehen erzählt wird, sind Lügen. Nichts davon ist wahr. Doch die Russen hören diese Geschichten jeden Tag, und am Ende glauben sie sie. Es herrscht ein Informationskrieg. Seit vielen Jahren wird in Russland erzählt, dass die Ukrainer Nazis seien.» Die staatliche Desinformation hat Schewtschenkos Verbindungen nach Russland in Mitleidenschaft gezogen. «Mit vielen russischen Verwandten und Bekannten stehen wir jetzt im Streit», erzählt sie. «Der Kontakt zu einer Freundin und einer Cousine ist inzwischen abgebrochen. Sie glauben, dass Putin den Marschbefehl gegeben hat, um uns in der Ukraine zu beschützen. Sie unterstützen den Kurs des Kremls.»

Gelebte Diakonie

Der Kontrast zwischen einer ehemals pulsierenden Metropole, wo die Menschen wegen des Raketenbeschusses in der Metro übernachten mussten, und der beschaulichen Voralpenprovinz, wo es zwar gemächlich zu und her geht, es aber dafür friedlich und sicher ist, könnte grösser nicht sein. Natalija Schewtschenko ist dankbar für die Hilfsbereitschaft und Unterstützung der Kirche. Auch mit den Nachbarn hat sie schon Bekanntschaft gemacht. Sie schenkten der Familie Willkommenskarten und Schokolade. Das Glück der Schewtschenkos und Pilipenkos befriedigt auch die Helfer. «Für uns alle hier gibt uns dieses Haus die Chance, etwas zu tun und nicht ohnmächtig zuzuschauen», sagt Kirchgemeinderatspräsident Philippe Groux. Für Eva Wegmüller ist die Flüchtlingshilfe «gelebte Diakonie», ein «Dienst am Menschen». In der kirchlichen Sozialberatung kommt die Fachstellenleiterin mit dem Thema Flüchtlingshilfe immer wieder in Berührung. Die Ereignisse in der Ukraine beschäftigen und erschüttern beide gleichermassen.

Russlands Angriffskrieg hat die grösste Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Über fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihr Land bereits Richtung Westen verlassen. Für Philippe Groux haben die aktuellen Ereignisse eine völlig neue Qualität. «Was wir heute erleben, unterscheidet sich grundlegend von früheren Flüchtlingskrisen», sagt er. «Jetzt geschieht etwas, was es im Asylwesen normalerweise nicht gibt: dass die Flüchtlinge mit ihren eigenen Mitteln bis hierherkommen. Im Schengenraum dürfen sich ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nämlich während 90 Tagen frei bewegen.» Groux ist Teil der Huttwiler Taskforce. Er befindet sich somit an der Schnittstelle der Informationsflüsse. So weiss er beispielsweise, dass der Kanton Bern der Gemeinde zwischen 100 und 200 Geflüchtete zugewiesen hat. Die Zahl beunruhigt ihn nicht sonderlich. «Genügend leere Wohnungen haben wir, um sie alle aufzunehmen», sagt er. Überhaupt ist sich Groux sicher, dass die Schweiz mit der grossen Zahl der Geflüchteten klarkommen wird. Es sei weniger eine Frage des Geldes als vielmehr der Zeit, denn die sei die Primärressource, die es zu mobilisieren gelte, um die Menschen geregelt aufzunehmen. Nach einer anfänglichen Überforderung der Behörden stellt Groux inzwischen fest, dass es mit den Anmeldungen klappt, der Schutzstatus «S» letzten Endes erteilt wird und die Gelder ankommen.

Koordination der Hilfsangebote

Die Freiwilligenarbeit für die Ankommenden geht unterdessen weiter. Eva Wegmüllers Fachstelle wird im Kanton Solothurn eine Koordinationsstelle bilden für alle kirchlichen Angebote. «Wir versuchen, das Angebot ökumenisch zu koordinieren und zu vermitteln, gerade weil die Gemeinden mit dieser Aufgabe überfordert sind», erklärt sie. Zu koordinieren gilt es freie Plätze in Häusern und Wohnungen, aber auch die Freiwilligenarbeit. Die Unterbringung der ukrainischen Flüchtlingsfamilie in Huttwil hat für Groux Beispielcharakter. «Wo immer möglich, sollte dies wiederholt werden. Dafür sind wir als Kirchgemeinden auch da», sagt er. Im Pastoralraum Oberaargau gibt es noch weitere Pfarrhäuser, die unbewohnt sind oder fremdvermietet werden, bestätigt Groux, der dafür auch eine einfache Erklärung liefert: «Heutzutage haben wir mehr Kirchen und Pfarrhäuser als Pfarrer.» Tatsächlich widmen sich in der Kirchgemeinde Langenthal derzeit bloss zwei Kapläne als geweihte Priester den liturgischen Aufgaben.

 

Spenden an die Familie und andere Geflüchtete können auf folgendes Postcheckkonto des Pastoralraums Oberaargau überwiesen werden: CH44 0900 0000 4500 3376 4, Vermerk «Flüchtlinge».

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