Das Unerwartete tun, sich auf den Nächsten vorbehaltlos einlassen. / Foto: unsplash.com/camilo-jimenez

Österlich reisen

Michael Hartlieb erzählt von seiner Velopilgertour durch Italien

In jungen Jahren unternahm der Theologe Michael Hartlieb eine Velopilgertour von Bozen nach Rom. Mit nur wenig im Gepäck dachte er, dass alles schon irgendwie gut gehen werde. Tatsächlich kam es genau so, nämlich gut. Ein Emmaus-Erlebnis.

von Michael Hartlieb*

Im Frühling des Jahres 2000 fasste ich den Entschluss, mit dem Velo nach Rom zu pilgern. Die Zeit schien äusserst günstig: Im Frühsommer endete mein Zivildienst, und bis zum Start meines Studiums im Herbst schien ein unendlich langer Sommer auf mich zu warten.

Meine Planung beschränkte sich auf wenig: Im Buchladen kaufte ich ein paar Karten von Italien. Ich lieh mir von einem Freund ein Ein-Personen-Zelt. Ich besorgte einen Satz Saiten extra, denn die Gitarre musste natürlich dabei sein. Viel weiter dachte ich nicht. Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, dass Italien kein ebenes Land ist. Ein Natel besass ich zwar schon, aber mehr als telefonieren konnte man damit nicht. Aber dafür hatte ich einen echten Trumpf in der Hand, und dieser geniale Einfall ging auf meinen Vater zurück: eine Art «Pilgerausweis» unseres Bischofs, der extra für mich auf Latein (!) ausgestellt worden war. Wie sinnvoll das war, sollte sich später noch herausstellen …

Alles andere, so dachte ich, würde sich schon finden. Und tatsächlich – alles fand sich.

Unfassbare Erlebnisse menschlicher Güte

Nach zwei Wochen intensiver Erlebnisse kehrte ich damals nach Hause zurück, verwandelt und als ein anderer. Heute wird mir immer deutlicher, dass diese Reise im besten Sinne für mich eine österliche Erfahrung gewesen ist. Was ich damit meine, werde ich etwas ausführlicher in der zweiten Hälfte dieses Beitrags schreiben – und vielleicht machen Sie sich anschliessend selbst in Ihrer eigenen Biografie auf die Suche nach solchen österlichen Erfahrungen. Sie werden bestimmt fündig!

Zunächst aber: Was hat mich während meiner Velofahrt nach Rom so berührt? Nun, mein «Plan» für die Abende und Nächte sah vor, nach jeweils spontan geplanten Etappen von täglich ca. 100–120 km (Startort war Bozen) bei einer Pfarrgemeinde zu klingeln und um ein Nachtlager zu ersuchen. Wo habe ich nun auf meinem Weg nach Rom geschlafen? Hier eine kurze Best-of-Zusammenstellung:

  •  In einer kleinen Ortschaft kurz vor Verona stellte mir der Pfarrer ein kleines Fremdenzimmer zur Verfügung. Zudem wurde ich zu einem Pfarreifest eingeladen, das die Gemeinde just an diesem Abend feierte. Übrigens verstand der Pfarrer kein Englisch, sehr wohl aber das Latein meines «Pilgerausweises». Nicht nur an diesem Tag hat mich dieser gerettet …
  • Für den Pfarrer eines Örtchens in der Po-Ebene sah ich wohl so müde aus, dass er mich im örtlichen Hotel eines Freundes auf dessen Rechnung einquartierte.
  • In einem kirchlichen Gästehaus in Assisi lernte ich den Vorsitzenden des «Verbandes österreichischer Tierärzte» samt Gattin kennen, der mich den ganzen Abend mit Zigarren (!) und Kaltgetränken umsorgte.
  • 100 km vor Rom übernachtete ich auf Vermittlung des Pfarrers bei einer Familie mit zwölf (!) Kindern. Da an diesem Abend aber nur elf dieser Kinder zu Hause waren, vervollständigte ich sozusagen die Familie. Alle zusammen schauten wir am Abend ein Spiel der EM 2000.

Nun kommt Emmaus ins Spiel

Wie aber komme ich von diesen eindrücklichen Erlebnissen zur Überzeugung, darin etwas «Österliches» erfahren zu haben? In der Bibel finden wir eine bekannte Erzählung, die ich als «Sehhilfe» für meine Deutung heranziehe: die Erscheinung Jesu auf dem Weg nach Emmaus, die wir nur im Evangelium nach Lukas finden (Lk 24,13).

Sie erzählt davon, wie sich nach dem Kreuzestod Jesu zwei namentlich nicht bekannte Jünger auf dem Weg nach Emmaus befinden, das wenige Kilometer von Jerusalem entfernt ist. Sie unterhalten sich angeregt über die Geschehnisse, die sie in Jerusalem miterlebt haben. Nun wird es spannend: Jesus tritt zu ihnen dazu und begleitet sie, aber die Jünger erkennen ihn zunächst nicht. In der Bibel heisst es dazu: «Doch ihre Augen waren gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten.»

Das ist eine sehr erstaunliche Information: Wie kommt es, dass seine eigenen Jünger ihn nicht erkennen? Die Geschichte geht weiter: Jesus fragt die Jünger, worüber sie sich unterhalten. Diese reagieren konsterniert: Wie es denn sein könne, dass er nichts von den Ereignissen in Jerusalem mitbekommen habe? Dass er nichts von Jesus wisse, dem Propheten? Und sie berichten von den jüngsten Ereignissen: dass Frauen aus ihrem Kreis ein leeres Grab vorgefunden hätten und einen Engel, der gesagt hätte, dass Jesus lebe. Andere Jünger fanden alles genau so vor, hätten aber den von ihnen erwarteten lebenden Jesus nicht vorgefunden.

Dieser Bericht empört Jesus regelrecht, und er setzt zu einem Lehrgespräch über die Rolle und Aufgabe von Jesus Christus an. In Emmaus angekommen, will er die Jünger eigentlich verlassen, aber diese drängen ihn, mit ihm zu rasten. Das Ende der Geschichte ist bekannt: Beim gemeinsamen Mahl bricht Jesus das Brot und spricht den Lobpreis. In diesem Moment gehen den Jüngern die Augen auf – und gleichzeitig entschwindet Jesus vor ihren Augen. Begeistert berichten die Jünger nach ihrer Rückkehr von diesem Erlebnis.

In Gemeinschaft vom Guten erzählen

Diese Erzählung zieht zuerst durch ein kleines Detail in ihren Bann: Die Jünger bleiben beide gesichtslos, namenlos und auch ihr Geschlecht bleibt eigentlich ungewiss. Sie sind ein «leeres Blatt» und damit eine Identifikationsfläche: Jede:r Leser:in ist dazu eingeladen, sich selbst als eine:n der beiden Jünger zu sehen. Wenn man sich auf dieses Angebot einlässt, zeigt die Geschichte auf einmal ihren wahren, überzeitlichen Charakter. Sie schlüsselt auf, wie Ostern verwandelt – wie man «Jesus sehend wird» – und was Christ:innen dazu beisteuern müssen, um selbst verwandelt zu werden. Dazu gehört, dass man sich auf den Weg macht, am besten in Gemeinschaft, um das gemeinsam Erlebte zu teilen, sich der gemeinsamen Geschichte und Erinnerung zu versichern.

Ein weiteres Element ist die persönliche Bildung anhand der Glaubenszeugnisse früherer Menschen, heiliger Schriften und der Theologie. In diesen beiden Elementen ist das österliche Christ-sein noch nicht ausgeschöpft, es bereitet aber den Boden für das Wesentliche: gemeinsam das Brot zu brechen, den Lobpreis zu sprechen, das Leben und Gott gemeinsam zu feiern. Und dann von dieser Erfahrung so beseelt zu sein, dass man davon in der Heimat und anderswo berichten muss und damit zum Heil aller Menschen beiträgt.

Diese vier Elemente (Gemeinschaft, Verkündigung der Botschaft, die Feier des Gottesdienstes, dadurch insgesamt der Dienst am Mitmenschen) werden gemeinhin als die vier «Grundaufgaben» oder «Wesenszüge» der Kirche verstanden. Das klingt sehr abstrakt und hat scheinbar wenig mit unserem alltäglichen Leben zu tun. Deswegen ist die Emmaus-Erzählung auch so augenöffnend. Sie stellt heraus, dass Ostern ein Prozess oder eine Entwicklung ist, von der das Leben eines jeden Menschen verwandelt werden kann – wenn man sich auf die genannten Elemente einlässt und sie auf seinem (Lebens-)Weg erlebt und sucht. Wir alle können also einander das Gegenüber sein, mit dem sich Ostern verwirklicht und Jesus Christus offenbart.

Sich berühren lassen

Als ich meine Velotour unternommen habe, wäre mir die Deutung, eine österliche Erfahrung zu machen, noch völlig fremd und unverständlich vorgekommen. Die Bewältigung von heissen Tagen und langen Strecken auf dem Velo und die täglich neue Sorge, abends einen Schlafplatz zu bekommen, standen damals im Vordergrund. Erst heute, in der Rückschau nach Jahrzehnten, wird mir klar, dass mir in den anderen Menschen mehr begegnet ist als «nur» Menschen aus Fleisch und Blut. Ich bin Menschen begegnet – egal, ob Christ:innen oder nicht –, die sich spontan vom Bedürfnis eines Mitmenschen haben berühren lassen.

In der Emmaus-Erzählung ist das ähnlich: Für die Jünger ist das Leben im Moment wichtig, vor allem nach den Ereignissen der vergangenen Tage. Jesus überrascht sie nun damit, dass er auf ihre Bedürfnisse eingeht, bei der Deutung ihrer Erlebnisse hilft und schliesslich sogar mit ihnen das Brot bricht. Es entsteht eine Beziehung, die über die ganze Erzählung trägt. Erst in der Rückschau aber steht den Jüngern deutlich vor Augen, dass ihnen die ganze Zeit so merkwürdig das Herz in der Brust brannte. Hierin kommt eine besondere christliche Haltung zum Zuge, die auch Jesus in seinem Umgang mit anderen Menschen immer wieder vorbildhaft zeigt: Den «Kairos», den guten Augenblick wahrnehmen, das Unerwartete tun, sich auf den Nächsten und seine Bedürfnisse vorbehaltlos einlassen – das schafft Raum für eine österliche Verwandlung von uns allen, hier und heute.

In diesem Sinne bleibt uns allen nur zu wünschen, dass wir Ostern während unserer alltäglichen Lebensreise immer wieder suchen. Und dass wir vor allem auch selbst dazu beitragen, dass andere mit uns gemeinsam österliche Erfahrungen machen dürfen.


* Michael Hartlieb ist Autor für www.glaubenssache-online.ch. Er ist Bereichsleiter «Theologische Grundbildung» am Theologischpastoralen Bildungsinstitut der deutschschweizerischen Bistümer.

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