Pietà, katholische Kapelle, Inselspital / Foto: zVg

Ordnung verkehrt

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Die meisten von uns Erwachsenen haben es gerne ordentlich. Ordnung ist das halbe Leben, heisst es. Ordnung gibt uns Übersicht und eine Orientierung. Die wenigsten Kinder halten freiwillig Ordnung. Im Gegenteil, sie lieben es, wenn sie nicht gilt, wie im Spiel «Verkehrte Welt». Im bekannten Kinderlied wird die Welt auf den Kopf gestellt: «Heute läuft alles umgekehrt. Was richtig war, ist jetzt verkehrt. » Die Freude am Spiel basiert auf dem Wissen um die geltende Ordnung. Sie wird nur spasseshalber ausser Kraft gesetzt. So lässt sich zeitlich begrenzte Unordnung nicht nur gut aushalten, sondern als lustig erleben, auch von den Erwachsenen.

Was, wenn die erwartete Ordnung ausser Kraft gesetzt wird, und alles nicht nur ein Spiel ist? Was, wenn oben und unten, vorher und nachher unumkehrbar vertauscht sind?

Im Angehörigengespräch auf der Intensivstation erfahren die betagten Eltern, dass ihr Kind nach einem tragischen Unfallgeschehen keine Chance mehr auf ein selbstbestimmtes Leben hat und vermutlich nicht mehr aufwachen wird. Sie sind schockiert und sprachlos. Nach langem Schweigen stammeln die erschütterten Eltern: «Nein, das kann nicht sein, das ist verkehrt. Wir sind alt, wir sind es, die sterben sollten, nicht unser Kind. Eltern sterben vor ihren Kindern, nicht umgekehrt. Die Ordnung ist falsch.»

Wenn Eltern ihr Kind verlieren, ist es das Schlimmste, was ihnen passieren kann. Es ist etwas Unbegreifliches und unsagbar Schmerzvolles. Es zerreisst einem das Herz, egal in welchem Alter das Kind ist. Trauernde Eltern im fortgeschrittenen Alter wird es zunehmend mehr geben, sagen die Prognosen. Wenn ein Kind stirbt, so stirbt die Zukunft, wird gesagt. Eltern, die gefühlt an ihrem Lebensende stehen, tragen diese Bürde nochmals anders. Das Weiterleben scheint ihnen oft sinnlos und falsch. Manche hoffen auf ein baldiges Wiedersehen im Leben danach. Andere hadern mit dem Schicksal, weil ihnen das Liebste genommen wurde. Sie laufen Gefahr, hoffnungslos und verbittert zu werden.

Wir gehen zusammen in die katholische Kapelle. Die alte Frau entzündet dort für ihr sterbendes Kind eine Kerze. Im Betrachten der Pietà flüstert sie, die heilige Maria ist auch eine Mutter, die ihr erwachsenes Kind verloren hat. Ihre Worte berühren mich. Im Schmerz verbunden sein, über den Verlust reden und sich im Leid begleitet fühlen, tut gut.

Monika Mandt,  Seelsorgerin im Inselspital

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