Der Wahl-Genfer Alberto Martín Menacho erzählt in seinem ersten Dokumentarfilm «Antier Noche» von vier jungen Menschen, die in einem Dorf im Südwesten Spaniens leben, von einem Leben zwischen Tradition und Moderne, zwischen der Ernte von Korkblättern und Rave-Partys
Von Vera Rüttimann
Juan Francisco verbringt seine Ferien oft mit Windhunden. Sie leben auf einem abgeschiedenen Bauernhof bei seinem Onkel in Salvaleón. In langen Filmsequenzen sieht man, wie er die Pfoten der Tiere einsalbt, um sie fit für ein Rennen zu machen. Man erfährt, wie der Junge über die Treue dieser Tiere sinniert und wie viel sie ihm zurückgeben.
Juan Francisco lebt in Salvaleón zusammen mit Antonio, Pepa und Santi, die von einer Musikkarriere träumt. Alberto Martín Menacho begleitet die jungen Leute einen Sommer lang mit der Kamera. Er zeigt sie beim Baden, bei der Arbeit im Schlachthof, bei der Korkernte oder beim Rave.
Im Heimatort des Regisseurs
Alberto Martín Menacho wurde in Madrid geboren. Seinen Weg in die Schweiz fand er, als er begann, an der HEAD in Genf bildende Kunst zu studieren. Er liess damit auch sein Heimatdorf Salvaleón hinter sich. Dieses Dorf im Südwesten Spaniens, aus dem seine Grosseltern und seine Mutter vor über 60 Jahren weggezogen sind, spielt nun eine Hauptrolle in seinem ersten Dokumentarfilm. Sein genauer Blick kommt nicht von ungefähr: Alberto Martín Menacho hat dieses Dorf in seiner Kindheit oft besucht und weiss, wie die Einheimischen ticken.
Abrupte Szenenwechsel
Ein wesentliches Merkmal dieses Dokumentarfilms sind seine oft abrupten Szenenwechsel. Auf eine Szene mit badenden Menschen auf einer Felsformation folgen Bilder einer surrenden Drohne, die in diese Idylle eingreift; auf Felder, wo nur das Zirpen der Grillen zu hören ist, folgen Szenen von Menschen, die unter grossem Lärm in einer Fischfabrik arbeiten müssen; auf einen Esel, der in der flirrenden Hitze auf einem menschenleeren Feld steht, bepackt mit schweren Korblättern, folgen Szenen von zuckenden jungen Leuten an einer Rave-Party. Die Momentaufnahmen von jungen Leuten, die mitten auf einem Feld mit verschwitzten Körpern selbstvergessen in rotes Licht getaucht tanzen, gehören zu den stärksten Momenten dieses Films.
Sehnsucht nach Ausbruch
Als Zuschauer:in muss man sich zu Beginn an die vielen Szenenwechsel in diesem Film gewöhnen. Wer begreift, was der Regisseur mit diesem Stilmittel beabsichtigt, dem entfaltet sich der Reiz dieses Dokumentarfilms. Alberto Martín Menacho zeigt uns damit die Zerrissenheit, in der seine Protagonist:innen leben. Ein Leben zwischen alten dörflichen Traditionen, das stark vom Katholizismus geprägt ist, und der Moderne. Ein Leben auch, das geprägt ist von der Sehnsucht nach dem ganz großen Ausbruch aus der oft bedrückenden Enge dieses Alltags.
Berührend sind hierbei die Momente mit Santi. In mehreren Sequenzen kann man sie dabei beobachten, wie sie versucht, ihre Musikkarriere in Fahrt zu bringen: Man sieht sie beim Schneiden von Videos und beim Aufnehmen von Audios. Beim Schminken vor dem Spiegel und beim ersten Vorsingen einer Eigenkomposition vor ihrem Bruder.
Alberto Martín Menachos Film gleicht einem ruhigen Fluss, einer Ode an die Langsamkeit. Es gibt keine hektischen Schnitte; die Kamera verweilt oft lange auf den Gesichtern. Der Ton ist herausragend. Wer sich auf den Rhythmus und die Stille dieses Films einlässt, dem eröffnet sich seine ganze Schönheit.
Antier Noche, Dokumentarfilm Spanien/Schweiz 2023, Regie: Alberto Martín Menacho, 106 min. Ab 22. März 2024, Kino Rex, Schwanengasse 9, 3011 Bern