«Kein Christ führt einen Angriffskrieg.» Nazar Zatorskyy an der Friedensdemo in Bern am 26. Februar. Foto: Keystone

«Putin ist ein orthodoxer Atheist»

Gespräch mit einem ukrainischen Priester

Der Ukrainer Nazar Zatorskyy ist Priester im Freiburgischen und kennt die orthodoxen Befindlichkeiten. Kyrill I., Patriarch in Moskau, steht für ihn hinter den Ideen eines grossrussischen Reiches.

Interview: Andreas Krummenacher

«pfarrblatt»: Die Konfessionen in der Ukraine sind vielfältig. Es gibt verschiedene orthodoxe Gemeinschaften, Sie selbst sind katholisch …

P. Nazar Zatorskyy: Ich gehöre der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche an. Wir sind eine Teilkirche der römisch-katholischen Kirche, Papst Franziskus ist also auch unser Papst. Den Gottesdienst aber feiern wir im byzantinischen Ritus, Sie würden praktisch keinen Unterschied zu einem orthodoxen Gottesdienst erkennen. Daneben gibt es die russisch-orthodoxe Kirche und die Orthodoxe Kirche der Ukraine (siehe Kasten).

Wie ist das Verhältnis untereinander?

Angespannt. Die russisch-orthodoxe Kirche hat Angst, dass immer mehr Gläubige zur Orthodoxen Kirche der Ukraine abwandern. Auch das Verhältnis zur griechisch-katholischen Kirche ist angespannt. Für die russischorthodoxe Kirche sind alle anderen Strömungen und Konfessionen Eindringlinge. Sie wirft ihnen vor, sie würden auf ihrem Gebiet ungerechtfertigt missionieren.

Ökumene, gemeinsame Projekte sind so wohl nicht denkbar?

Man sitzt zwar in verschiedenen Gremien zusammen, die Teilnahme der russisch-orthodoxen Vertreter an ökumenische Feiern ist aber sehr begrenzt. Wenn man sich als einzig richtige Kirche versteht, dann erübrigt sich die Frage der Ökumene. Alle anderen sind dann im Unrecht respektive aus der Sicht Moskaus aggressive Eindringlinge.

Kyrill I., Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, unterstützt den russischen Präsidenten Wladimir Putin aktuell sehr …

Aus russischer Sicht ist die Ukraine kein eigenständiger Staat, kein eigenständiges Volk, Ukrainisch ist demnach auch keine eigenständige Sprache. Die Menschen in der Ukraine haben kein Anrecht auf ein eigenes Land, einen eigenen Staat. Das Konzept heisst «Russische Welt». Entworfen wurde es nicht von Putin, sondern von Kyrill I. Putin hat diese Ideen von ihm übernommen. Dieses Konzept besagt, dass zum Kern der «Russischen Welt» Russland, die Ukraine und Weissrussland gehören, plus Moldawien. Weitere kommen dazu. Die Zukunft dieser Länder liegt in der Integration. Das hat Kyrill I. schon 2009 in einer Rede ausgebreitet. Er sprach in dieser Rede davon, all diese Staaten, die also auf dem historischen Gebiet des Grossreichs des Kiewer Rus liegen, könnten eine sogenannte «Russische Welt» schaffen, ein übernationales Projekt. Als Beispiele oder Vorbilder nannte Kyrill I. die britischen, französisch- oder spanischsprachigen Gebiete.

Die russisch-orthodoxe Konfession setzt sich demnach gleich mit der Nation, in diesem Fall einem grossrussischen Reich?

Russische Nationalist:innen prahlen sogar damit, dass die russisch-orthodoxe Kirche zuerst und vor allem russisch, dann orthodox und erst an dritter Stelle Kirche sei. Sie sehen darin nichts Verwerfliches.

Russlands Präsident Wladimir Putin begründete seinen Einmarsch in der Ukraine unter anderem damit, dass russisch-orthodoxe Menschen dort unterdrückt würden. Ist das begründet?

Niemals. Russische Propaganda produziert Bilder und Parolen, die nichts mit der Realität zu tun haben, sondern bloss das Ziel haben, Herrn Putin zu gefallen. Wahrscheinlich glaubt er seiner eigenen Propaganda. Man will die Bevölkerung beeinflussen, aber mit der Zeit wird die Maske zum eigenen Gesicht. Die Lüge wird mit der Zeit geglaubt. Es gab in der Ukraine nie einen Fall, dass russisch-orthodoxe Gläubige an der Ausübung ihrer Aktivitäten gehindert wurden. Da verwechselt Putin die Ukraine mit Russland.

Seit Anfang der 1990er Jahre soll sich Wladimir Putin zum russisch-orthodoxen Glauben bekennen. Ist Putin gläubig?

Nein, Wladimir Putin hat den sogenannten magischen Glauben. Es ist kein Glaube, der aus dem Evangelium kommt, sondern ein Glaube aus dem Bewusstsein: «Ich bin Russe, also muss ich orthodox sein und für die orthodoxe Kirche einstehen!» Putin ist ein orthodoxer Atheist. Keine im christlichen Glauben verwurzelte Person kann einen blutigen Angriffskrieg beginnen. Es ist nicht der erste Krieg, den Putin beginnt. Er hat schon Tschetschenien angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht. Danach kam Georgien, dann der Einsatz in Syrien und jetzt die Ukraine.

Was macht es mit Ihnen, dass hier christliche Menschen gegeneinander kämpfen?

Das ist sehr traurig. Das war in der Geschichte immer traurig. Wenn bei den russischen Kämpfer:innen ihr Chauvinismus an erster Stelle steht und der christliche Glaube diesem dienen muss, dann ist das traurig und kein wahres Christentum. Das Problem ist der Chauvinismus, das Gefühl der Überlegenheit der eigenen Nation, der eigenen Gruppe über alle anderen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist jüdisch. Wurde sein Judentum in der politischen Debatte oder im Wahlkampf irgendwann thematisiert?

Nein, das war nie ein Thema, geschweige denn ein Problem. Das straft die Vorwürfe Putins Lügen, dass es in der Ukraine Nationalsozialisten geben würde. Hätten diese einen Juden zum Präsidenten gewählt? Neben Israel ist die Ukraine das einzige Land auf der Welt, in dem ein Jude Staatspräsident ist.

Die Lösung des Westens sind nun Waffenlieferungen an die Ukraine. Das widerspricht der Gewaltlosigkeit des Christentums.

Die Frage danach, ob Christ:innen am Krieg teilnehmen dürfen, hat schon der Heilige Augustinus vor 1500 Jahren gelöst. Ein Christ darf Waffen zur Selbstverteidigung einsetzen. Gerade im Fall der Ukraine scheint mir das klar der Fall zu sein. Es geht den Ukrainer:innen darum, die eigene Ausrottung zu verhindern. Es geht Putin nicht um Entwaffnung und Einnahme. Es geht ihm um die Vernichtung der Existenz der Ukraine als Volk. Dieser Krieg ist ein Versuch, die Ukraine als Nation auszulöschen, ein angekündigter Genozid. Die Bombardierung der Städte, der Wohnsiedlungen beweist das.

Haben Sie Familienangehörige in der Ukraine?

Meine Mutter lebt in der Ukraine, ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie fühlt sich noch nicht direkt bedroht, weil sie im Westen der Ukraine wohnt. Sie ist schockiert und gestresst. Der Westen der Ukraine ist aktuell ein grosses Zufluchtsgebiet. Nur ein kleiner Teil der Menschen flieht ins Ausland.

Was können wir Schweizer:innen tun? Sollen wir spenden?

Schweizer Christ:innen können zuerst und vor allem beten. Das Gebet ist ein mächtiges Instrument. Es gibt viele Hilfswerke, die jetzt Spenden für die Ukraine sammeln, Güter, Medikamente. Das sind gute Möglichkeiten zu helfen.

Wie kann man beten, was soll man beten?

Jedes Gebet ist geeignet. Eine Kerze für die Ukraine, für den Frieden anzuzünden, ist eine religiöse Geste und auch eine Art Gebet.

Wie geht es Ihnen bei all diesen Nachrichten aus Ihrem Heimatland?

Das ist alles sehr belastend, kräfte- und nervenzehrend und teilweise auch lähmend, wenn man diese Unmenschlichkeit und Brutalität sieht. Die Rücksichts- und Ruchlosigkeit ist wirklich schockierend. Ich kann nur beten.

 

P. Nazar Zatorskyy (42) ist Priester der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche, er lebt im Kanton Freiburg. Er ist mitarbeitender Priester in der Seelsorgeeinheit St. Urban, mit den Pfarreien Gurmels und Murten. Ausserdem ist er bischöflicher Beauftragter für die Ukrainer:innen in der Schweiz und Doktorand an der Uni Fribourg.

Die ukrainisch griechisch-katholische Kirche hat weltweit etwa 4,3 Mio. Mitglieder, die Mehrheit davon in der Ukraine. In der Schweiz gehört sie zur Diözese Frankreich und wird vom Bischof in Paris geleitet. Die katholischen Kirchen im Osten feiern den Gottesdienst in einer anderen Form, einem anderen Ritus, gehören aber zur römisch-katholischen Kirche und heissen darum unierte Kirchen.

75% der Ukrainer:innen gehören orthodoxen Kirchen an. Bis 2018 gab es drei orthodoxe Strömungen im Land. In der Sowjetherrschaft wurden sämtliche Kirchen der russisch-orthodoxen Kirche unterstellt, respektive deren Ableger in der Ukraine. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 bis ins Jahr 2018 bestanden in der Ukraine faktisch drei orthodoxe Kirchen (Moskauer Patriarchat, Kiewer Patriarchat, Autonomisten). 2018 entstand die Orthodoxe Kirche der Ukraine. Die oberste Autorität der Orthodoxie, Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel, anerkannte deren Eigenständigkeit, sehr zum Missfallen des Moskauer Patriarchen Kyrill I. Er anerkennt die Orthodoxe Kirche der Ukraine nicht, weil er über sie keine Vollmacht mehr hat. Daneben gibt es in der Ukraine muslimische Tataren- und Turkvölker (4%), kleinere Baptistengemeinden und etwa 300000 Jüdinnen und Juden.

 

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