Flüchtlinge auf einem Boot in Lesbos. Foto: UNHCR/Ivor Prickett

(Quasi) auf der Flucht

Flucht im Rollenspiel simulieren

Der Willkür, Ungewissheit und Ohnmacht ausgeliefert: Jugendliche erleben via Rollenspiel quasi hautnah, wie sich das anfühlt: Wenn man – analog zu den Menschen in der Ukraine – flüchten muss. Ist das zu harter Stoff oder ein angemessener Weg zur Sensibilisierung und Information?

Marcel Friedli

Der Alarm, der den Angriff ankündigt, schrillt. Die Jugendlichen müssen in einer Minute entscheiden, was sie in die ungewisse Zukunft mitnehmen. Werden gefangengenommen, in einen Bunker gesperrt, verhört. Sie werden vor diese Frage gestellt: jemand anderen verraten, um sich selber zu retten?

Sie kriechen über ein Minenfeld an die Grenze. Dort werden ihnen die Wertgegenstände abgenommen – ob die reichen, um die Flucht zu finanzieren? Ein Formular voller Hieroglyphen müssen die Jugendlichen unterschreiben, wenn sie ihre Chance auf ein zweites Leben wahren wollen.

Dies sind Stationen einer Flucht. Einer Simulation von Flucht: Zwar bleiben die Teenager auf dem Schulplatz und im Schulhaus. Doch die Szenen sind nahe an der Realität. Es handelt sich um eines der Bildungsangebote der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) für Jugendliche (vgl. Zweittext), das Pfarrer und Lehrerinnen buchen können.

Verstehen und einordnen

«Die Jugendlichen erleben, wie es ist, Ohnmacht und Willkür ausgeliefert zu sein», sagt Anna Friedli*, Co-Leiterin Jugendbildung der SFH. Das sei kein zu starker Stoff, sagt sie. «Diese Frage haben wir mit einem psychologischen Gutachten abklären lassen. Zudem informieren wir die Eltern und Lehrpersonen vorab.» Zudem werde niemand zum Mitmachen gezwungen, die Jugendlichen könnten jederzeit aussteigen, wenn es ihnen zu viel werde, oder sagen, dass sie nicht mitmachen wollen. Das haben zwei ukrainische Jugendliche vor Kurzem gemacht. «Ihre Erlebnisse sind noch zu frisch. Kaum vernarbte Wunden und Verletzungen aufzureissen, liegt uns fern», sagt Anna Friedli.

«Unser Ziel ist es, Jugendliche zu sensibilisieren, zum Nachdenken zu animieren, zu informieren.» Um dies zu gewährleisten, werden die einzelnen Stationen und Fragestellungen danach in der Gruppe diskutiert und besprochen. «Die Jugendlichen sind also nicht im luftleeren Raum», hält Anna Friedli fest, «sondern sie werden aufgefangen. Mit ihnen gemeinsam versuchen wir, zu verstehen, einzuordnen: die äusseren Ereignisse – und das, was innerlich abgeht.»

Ein Dauerbrenner

Das Interesse der Jugendliche sei aufgrund des Ukraine-Konflikts gross, sagt Anna Friedli. «Damit ist das Thema Flucht nahe an sie herangerückt. Es ist der erste Krieg, den sie so nah mitbekommen, auch weil ukrainische Jugendliche in den Schulen aufgenommen werden.» Darum nehme man immer wieder Bezug zur Aktualität.

«Wir weisen sie jedoch darauf hin», betont sie, «dass es noch viele andere kriegerische Auseinandersetzungen gibt, von denen man kaum etwas hört. Dass Flucht etwas Generelles ist, lediglich die politischen Konstellationen wechseln – das Leid jedoch dasselbe ist, auch wenn jede Geschichte individuell erlebt wird.»

*Anna Friedli (37) arbeitet bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zum einen als Co-Leiterin Jugendbildung, zum anderen im Team Gastfamilien. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin und hat in Luzern und Tasmanien Kultur- und Politikwissenschaften studiert und danach den Master in European Studies erworben. Vor sechs Jahren war sie im Feld an der Grenze zwischen Griechenland und Serbien im Einsatz und wirkte von 2018 bis 2020 in einem UNO-Projekt in Ägypten mit.

Happiger Kontrollverlust


Gina Papis, 15, hat eine simulierte Flucht mitgemacht – eine bleibende oder flüchtige Erfahrung?

Interview: Marcel Friedli

«pfarrblatt»: Was an der Fluchtsimulation hat dich am meisten beeindruckt?

Gina Papis: Die Station ganz am Anfang, als wir überfallen und uns ganz schnell und überraschend die Augen verbunden wurden. Zwar war mir bewusst, wo ich in Realität bin. Doch es war vollkommen ungewiss, was nun passieren würde. Ich verlor die Kontrolle. Das ist happig – auch dann, wenn man wie ich kein Kontrollfreak ist.

Ist diese simulierte Flucht zu harte Kost?

Ich finde sie für 15-Jährige angemessen. Eine spannende Erfahrung. Es gab sogar lustige Momente.

Inwiefern?

Wir waren im Bunker. Es war ganz dunkel. Da stand mir jemand auf den Fuss. Ich erschrak, mir blieb fast das Herz stehen. Da mussten wir beide lachen. Wohl auch wegen der Spannung, die in der Luft lag. Zu lachen und zu kichern löste diese Anspannung und nahm dem Ganzen die Dramatik.

Wie war diese Fluchtsimulation für dich?

Ich habe erlebt, wie es sich in etwa anfühlt, wenn man auf der Flucht ist. Super war, dass wir miteinbezogen wurden und mitmachen konnten. Eigentlich kann man eine Flucht nicht simulieren – aber die Idee, was das bedeutet, ist bei mir eindrücklich angekommen. Daran erinnere ich mich auch noch in ein paar Jahren.

Sensibilisieren und informieren
Die Fluchtsimulation ist ein Teil des Bildungsangebots der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH). Für Jugendliche zwischen 13 und 15 Jahren können Lehr- und Pfarrpersonen insgesamt acht Module einzeln buchen. Ziel der SFH: Jugendliche und (junge) Erwachsene für die Lebensrealitäten von Geflüchteten zu sensibilisieren und Hintergrundwissen zu vermitteln. Dies soll dazu beitragen, sich eine differenzierte Meinung zu bilden, Vorurteile abzubauen und das Interesse an Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturen zu wecken.
Weitere Infos: www.fluechtlingshilfe.ch (Rubrik Bildungsangebote)

 

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