Was macht Zärtlichkeit aus? Was passiert, wenn sie uns verweigert wird? Und: Wie fühlt sich Verlassensein an? Um solche Fragen dreht sich das Stück «Über Bord» in der Grossen Halle der Reitschule Bern.
Von Vera Rüttimann
Mit einem Plan in der Hand werden die Besucher:innen dieses Theaterstückes eingeladen, eine Box in der Grossen Halle anzusteuern. In der Halle gibt es zahlreiche solcher Boxen, überall in diesen unterschiedlichen Räumen steht das Spiel zwischen Nähe und Distanz im Mittelpunkt. Es hat viele Facetten.
Zurückgewiesen
Als Besucher:in wartet man also in einer der Boxen auf die Darsteller:innen des Ensembles. Im Sauseschritt entert plötzlich ein Paar die Box, wirbelt umher, küsst und umarmt sich. Ihre Gefühle flammen auf. Ihre Sexualität erwacht. Alles scheint zum ersten Mal zu passieren. Ein weiterer Mann betritt den Raum. Er nimmt sich die Frau. Plötzlich kippt das Lachen in ein lautes Schreien um. Eifersucht, Hass und Wut dominieren den Raum. Diese Szene dreht sich darum, dass man Zärtlichkeit, sei es das Streicheln der Wange oder die Berührung von Augen und Lippen, nicht besitzen kann.
Der Mensch fühlt sich nicht wohl, wenn man ihm ungefragt körperlich zu nahekommt. Genau das passiert in dieser Box. Viele fühlen sich bei der Szene, in der sich Paare küssen und umarmen, unwohl. Hier findet eine Grenzüberschreitung statt.
Bewusst wird in diesem Theaterstück, das unter der Leitung von Christoph Hebing, Elena Maron und Marcel Leemann entstand, auch Momente out oft the box eingebaut. Tänzer:innen performen um die Zuschauenden herum, die den Pfeilen entlang gehend die nächsten Boxen ansteuern.
Viele Gäste kennen die Inszenierungen der «Jungen Bühne Bern», die Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren mit und ohne Migrationshintergrund, Doppelbürger:innen und Sans-Papiers ermöglicht, auf einer Bühne zusammenzukommen, um zu performen.
Eingeschnürt
In einem weiteren Raum geht es um den Themenkomplex Unterwerfung und Dominanz. Die Darsteller:innen werden mit Seilen eingeschnürt. Bewegungs-unfähig und still-gelegt liegen sie auf dem Boden. Die Augen geschlossen. Die Szenen erinnern an die Kunst der Bondage, eine japanische Fesselkunst mit erotischen Hintergedanken à la «Fifty Shades of Grey».
Doch erotisch ist hier nichts. Die Performance steht symbolhaft dafür, wenn Nähe einengt, aufgezwängt wird und Beziehungen absterben lässt. Unter der gekonnten Lichtsetzung von Pascal Pompe sieht man in den Gesichtern der Figuren Schmerz und Leere. Die jungen Zuschauer werden in dieser Box ermutigt, Nein zu sagen, wenn sie sexuell bedrängt werden oder sie eine Beziehung beenden wollen.
In einer weiteren Box betreten die Theaterbesucher:innen das Zimmer einer Jugendlichen. Es ist voll von persönlichen Gegenständen. Man sieh an den Wänden Fotos von Freunde, Familien und einem Pärchen in den Ferien. Alles ist ein gelbliches Licht getaucht. Eine junge Frau sitzt in einem Stuhl und wartet auf einen Anruf. Es klingelt. «Ich vermisse dich!», sagt die Stimme. Der Partner ist weit weg. Eine Berührung kann nicht stattfinden.
Allein sein
In einer anderen Szene geht es um das Aushalten des Alleinseins. Der Wunsch nach Zärtlichkeit macht auch verletzlich. Er kann Angst machen. Was, wenn man seine Flanken nicht öffnen will und allein bleiben möchte? Wer oder was gibt einem dann Kraft? «Der Wald», antwortet einer der Darsteller.
Am Ende des Parcours durch die Boxen sind die Zuschauer:innen begeistert. Sie haben einen mitreissenden Theaterabend rund über das Berühren erlebt.
«Über Bord»
Gespielt vom Theaterclub U26 / TKKG – Theater kennt keine Grenzen
Grosse Halle der Reitschule, Bern
Weitere Vorstellungen:
Mittwoch, 25. Mai, 20 Uhr
Donnerstag, 26. Mai, 20 Uhr
Freitag, 27. Mai, 20 Uhr
Schulvorstellung:
Montag, 23. Mai, 9.30 Uhr,
Dienstag, 24. Mai, 9.30 Uhr
Ein Gemeinschaftsprojekt von: Junge Bühne Bern, Marcel Leemann Physical Dance Theater, Katholische Kirche Region Bern – Fachstelle Kinder und Jugend, Grosse Halle.