Online-Grab, virtuelle Kerze und QR-Code auf dem Grabstein: Christa Dürscheid berichtete unlängst an einer «Lunch & Lecture»-Veranstaltung in der Paulusakademie in Zürich über die Trauerkultur im Netz. Wollen wir ewig trauern? Wenn ja, wie?
von Vera Rüttimann
Der Alltag vieler Menschen wird immer digitaler. Das hat zweifellos auch die Art und Weise geändert, wie heute getrauert wird. Immer häufiger findet die Trauer der Menschen ihren Ausdruck auf virtuellen Friedhöfen. Das digitale Trauern erhielt einen zusätzlichen Boost während der Corona-Pandemie, in der Verstorbene einsam bestattet werden mussten. Das jedenfalls sagt Christa Dürscheid, Professorin für Deutsche Sprache an der Universität Zürich und Leiterin des Forschungsprojekts «Trauerpraktiken im Internet». Sie forscht im Rahmen des universitären Forschungsschwerpunkts «Digital Religion(s)».
Ewiger Gedenkzustand
Christa Dürscheid zitiert aus dem Inhalt des «Sterbereport 2022», der einen aufschlussreichen Einblick in die Trendthemen im Trauergeschäft bietet. Ein Punkt heisst dort «Posten von Fotos und Videos auf Trauerportalen». Der Facebook-User beispielsweise kann seinen Account in den «Gedenkzustand» versetzen lassen. Auf der Facebook-Timeline von Verstorbenen passiere, so Dürscheid, einiges: «Manchmal waren es vor dem Tod hundert Posts und danach 500.»
Wie kann das sein? Viele Menschen wollen auch online trauern können. Selbst digitale Spuren eines Menschen spenden Trost. Christa Dürscheid nennt ein Beispiel: «Die letzten Whatsapp-Nachrichten des verstorbenen Sohnes waren für die Trauerarbeit einer Mutter drei Jahre lang sehr wichtig.»
QR—Code auf dem Grabstein
Verstorbene leben auf Online-Friedhöfen auf alle Ewigkeit weiter. Sie erhalten auf Webseiten eine Online-Urne oder einen digitalen Grabstein, der betrauert werden kann. Und die «Grabbeilagen» werden immer raffinierter, wie Christa Dürscheid mit Beispielen veranschaulicht. Beim Portal «Strasse der Besten» etwa können Gräber verschiedenen Religionsgemeinschaften zugeordnet werden. «Die Trauernden können virtuelle Kerzen anzünden, die Gedenkseite mit Musik unterlegen und Bilder von Verstorbenen hochladen.»
Zu den neuesten Trends gehört auch das Eingravieren eines QR-Codes am Grabstein, der mit dem Smartphone gelesen werden kann und direkt auf die Gedenkseite im Netz führt.
«Tugend des Vergessens»
Zutiefst intime und private Gefühle in die Welt hinausposaunen, das finden nicht alle gut. Für Kritiker:innen ist diese Offenheit auch ein Ausdruck von Einsamkeit. «Wo früher das private Umfeld war, bietet nun die virtuelle Welt Halt», sagt eine Teilnehmerin. Eine andere fragt: «Geschieht da nicht ein Hype, dem man unbedingt folgen muss?» Und: «Was passiert mit der Gedenkseite im Internet in 25 Jahren?» Christa Dürscheid hat auch dazu geforscht und hält erstaunt fest: «Nach zwei Jahren gibt es kaum noch aktuelle Posts auf den Accounts von Verstorbenen.»
Bei Muslim:innen herrscht eine andere Friedhofskultur: «Bei uns wird der Grabstein auf einem Friedhof der Zeit überlassen. Man verpflichtet die Nachkommen nicht, das Grab zu pflegen», sagt ein Vertreter der muslimischen Gemeinde während der «Lunch & Lecture».
«Wie gut ist es überhaupt, immer wieder zu trauern – und somit nie abzuschliessen?», fragt Christa Dürscheid in die Runde. Sie kennt die Grundthese vieler Kritiker:innen: Wer sich ständig erinnert, ist unfähig, sich im Hier und Jetzt zu bewegen. Die Tugend des Vergessens ist da geradezu ein Segen.
Berühren, trösten, reden
Kritiker:innen der digitalen Trauer geht dadurch die Kultur des Sichbegegnens im gemeinsamen Trauern verloren. Sich berühren, sich tröstend in die Arme nehmen und das Gespräch in real – all das kommt bei Online-Bestattungen nicht zum Zuge. Trotz neuer digitaler Tools: Eine Online Beerdigung oder ein QR am Gedenkstein ersetzt für viele die wärmende Gemeinschaft von Trauernden nicht.