Das Ensemble führt mit Können und Humor durch den Abend. Foto: Severin Nowacki

Ringen mit Verschwörungstheorien und Ideologie

«Der vergessene Prozess» beleuchtet einen Moment Schweizer Geschichte.

Ein neues Stück beschert dem Berner Effinger-Theater ein volles Haus. «Der vergessene Prozess» beleuchtet einen Moment Schweizer Geschichte und ist dabei äusserst aktuell. Es geht um das Ringen von Vernunft und Recht mit Verschwörungsnarrativen und Ideologie. Die Landeskirchen haben die Inszenierung finanziell unterstützt.

von Annalena Müller

Verschwörungsnarrative haben Konjunktur in einer Welt, die mitunter den professionellen Politikbetrieb überfordert. «Der vergessene Prozess» behandelt dieses Phänomen auf eindringliche Weise und sichert dem «Theater an der Effingerstrasse» ein volles Haus. Ganz nebenbei ist «Der vergessene Prozess» eine gelungene Adaption des epischen Theaters. Ermöglicht wurde die Aufführung unter anderem mit Geldern der Berner Landeskirchen.

Sprache als Waffe

«Sprache ist die Waffe, die trifft. Die Waffe, die man immer zur Hand hat. Sie ist zeitlos und zu jeder Zeit abrufbereit.» Mit diesen Worten wendet sich Odette Brunschvig (Heidi Maria Glössner) an das Publikum und setzt den Ton für den Abend.

Der Inszenierung im Effinger-Theater gelingt es, das trockene Thema eines Gerichtsprozesses mit Leben, Tragik und Situationswitz zu füllen. Gebannt folgt man dem Treiben auf der Bühne zwei Stunden lang und tritt im Anschluss nachdenklich in die kalte Berner Nacht.

Die Gegenwartsbezüge des historischen Stoffs, den die Schweizer Autorin Gornaya aufgearbeitet hat, sind unübersehbar. Hate-Speech, Verschwörungsnarrative und die Frage: Was kann man der Entmenschlichung der Welt entgegensetzen?

Der «Berner Prozess»

Im Zentrum des Stücks steht der sogenannte «Berner Prozess». Dieser machte in den 1930er Jahren international Schlagzeilen und ist heute weitgehend vergessen. Im «Berner Prozess» sollte die Verbreitung einer der wirkmächtigsten antisemitische Hetzschriften verboten werden: «Die Protokolle der Weisen von Zion».

Anfang der Dreissigerjahre waren die «Protokolle» an jedem Kiosk erhältlich. Antisemitismus und Sympathie für den Nationalsaozialismus waren auch in der Schweiz weit verbreitet. Nach einer Kundgebung der Schweizer Nationalsozialisten 1933 im Casino Bern entscheiden sich der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Israelitische Kultusgemeinde Bern vor Gericht zu ziehen. Ihr Ziel: «Die Protokolle der Weisen von Zion» als Fälschung entlarven und deren Verbreitung verbieten. Nach einem zweijährigen Mammutprozess wurden die «Protokolle» tatsächlich zeitweilig als «Schundliteratur» verboten.

Die vierte Wand

Der junge Anwalt Georges Brunschvig leitete den Prozess. Immer an seiner Seite: seine Verlobte, die 18-jährige Odette. Auf der Bühne des Effinger-Theaters hat Odette eine zentrale Rolle. Sie führt einerseits als alte Frau durch die Ereignisse und ordnet diese in Brecht’scher Manier immer wieder für das Publikum ein. Dann wieder wird Odette zur Partnerin an Georges Seite (Jeroen Engelsman) und ist Teil der Handlung.

Regelmässig durchbrochen werden sowohl die «vierte Wand», die im Theater die Handlung auf der Bühne vom Publikum trennt, als auch die Zeitebenen. Nicht nur Odette springt von den 1930ern in die Gegenwart und zurück, sondern auch der Rest des Ensembles unterbricht das Spiel und reflektiert über «Hate Speech», «Trigger-Warnungen» und über die Frage, was Kunst in der heutigen Zeit darf.

«Ich fand es naheliegend, die Illusion immer wieder zu durchbrechen, um sichtbar zu machen, dass es ein unmögliches Unterfangen ist, den «Berner Prozess» auf die Bühne zu bringen; es sollte von Anfang an klar sein, dass das, was auf der Bühne zu sehen ist, eine künstlerische Konstruktion und der Zugriff auf den Stoff politisch ist und nicht geschichtswissenschaftlich», sagt die Verfasserin des Stücks, Gornaya.

Gegenwartsbezug

Neben der Dramaturgie sind es die fünf Schauspielenden, die das dichte Stück tragen. Sie schlüpfen in verschiedene Rollen und führen mit Können und – bei dem ernsten Thema vielleicht überraschend – mit Humor durch den Abend. Es gelingt der Inszenierung, aus dem historischen Stoff ein moralisches Stück der Gegenwart zu machen, das sich des wohlwollenden Nickens eines Berthold Brecht sicher wäre.

Die in «Der verlorene Prozess» behandelten Themen sind, wenn nicht zeitlos, so doch sehr zeitbezogen. Spätestens seit Corona sind Verschwörungstheorien in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Und auf Antisemitismus trifft man dieser Tage nicht nur an Pro-Palästina-Demonstrationen. Es sind diese Punkte, die Odette und Co. diskutieren.

Auf die grösste Frage aber wissen die Figuren auf der Bühne keine Antwort: Was kann man als Einzelperson und als Gesellschaft Verschwörungsnarrativen entgegensetzen? Mit dieser Frage werden die Besuchenden am Ende des Stücks in die Nacht entlassen. Die Antwort müssen sie selbst finden. kath.ch

«Der vergessene Prozess»
Uraufführung
Regie: Jochen Strodthoff, Ausstattung: Angela Loewen, Musik: Robert Aeberhard
Mit: Heidi Maria Glössner, Jeroen Engelsman, Wowo Habdank, Tobias Krüger, Kornelia Lüdorff

Bis zum 20. April täglich im Theater an der Effingerstrasse
Spielplan und Ticketreservierung

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