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Riss-Situationen

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Der Lebensfaden – eine uralte bildhafte Vorstellung fürs gelebte oder noch zu lebende Leben. In der alten Vorstel­lung wird er zugeteilt, bemessen und abgeschnitten. Heute sagen wir oft, der Lebensfaden sei gerissen.

In der Insel gibt es Situationen, da ist der Lebensfaden nur leicht beschädigt. Er kann repariert werden. Das Leben vorher und nachher geht mehr oder weniger gleich weiter. Es gibt aber auch Situationen, da endet der Lebensfaden. Schnitt. Das Leben hört auf. Das Unausweichliche jeden menschlichen Schicksals, das Ende, ist da.

Nebst diesen beiden Situationen er­ lebe ich auch solche, in denen der Lebensfaden zwar gerissen ist, aber dank viel Wissen und Erfahrung wieder heil gemacht werden kann. Dabei entsprechen sich allerdings der Faden vor dem Riss und derjenige danach nicht immer voll und ganz. Oft ist das Danach an­ders, ist die Lebensqualität eine ande­re, gehen Dinge nicht mehr, die vorher gegangen sind, oder sie müssen neu erlernt werden. Der Wunsch, dies vor­aus zu wissen, ist nachvollziehbar und oft gross. Man möchte abwägen kön­nen, ob es sich lohnt, sich oder jemand Nahestehendes mit einer veränderten Zukunft zu verbinden. Die Realität ist aber oft die, dass wir es mit Wahrscheinlichkeiten, mit Annahmen und Meinungen zu tun haben. Die sind zwar fundiert. Trotzdem bleiben es mit Un­sicherheiten behaftete Prognosen.

Ausserdem reicht unsere Vorstel­lungskraft kaum aus, um die Zukunfts­prognosen in ihrer Bedeutung ein­schätzen zu können. Wie ist es, nicht mehr dies oder das tun zu können? Wie ist es, wenn beim Denken und Fühlen Dinge anders funktionieren als bisher? Finde ich dann mein Leben oder das der mir nahestehenden Person noch lebenswert, und an wem ist es, darüber zu entscheiden? Der Umgang mit sol­chen Rissen ist sehr anspruchsvoll. Ent­scheidungen sind schwierig – richtig und falsch gibt es nur als Vermutungen.

Kürzlich bin ich einem Vater wieder begegnet. Seine Tochter war schwer verunfallt. Es war eine dieser Riss­Situa­tionen. Die Fachpersonen waren sich uneins. Die Prognosen schwankten von düster bis hoffnungsvoll. Nur darin wa­ren sich alle einig, dass der Riss sicht­ und spürbar bleiben wird. Welche Qua­lität das Leben danach habe, wusste niemand, wenn ein solches überhaupt möglich war.

Die Eltern fanden einen bemerkens­wert klaren Umgang mit dieser Situa­tion. Erstens akzeptierten sie die Tat­sache, dass ein einfaches «Reparieren» unmöglich war, auch wenn sie darüber sehr traurig waren. Und zweitens orien­tierten sie sich gezielt an den positiven Prognosen. Die gab es ja, und die verwiesen auf Möglichkeiten, wie der Faden mit etwas Neuem verknüpft werden konnte. Sie setzten auf begrün­detes Hoffen. Und darauf, dass nicht alles von ihnen selbst abhing. Etwas Übergeordnetes würde entscheiden, was wie möglich sein werde.

Ein paar Monate ist das nun her. Dann das Wiedersehen mit dem Vater. «Wir spielen Karten und können wieder zusammen lachen», freute er sich.

Nadja Zereik, Seelsorgerin im Inselspital

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