Ich darf so sein, wie ich bin. Gute Seelsorge. Foto: giulietta73 / photocase.de

Seelsorge als «Muttersprache» der Kirche

Eine grosse Handtasche voller Zeit

Die ideale Seelsorge der Kirchen wirft einen durch und durch gütigen Blick auf Menschen und ihre Realitäten. Das soll auch die kirchliche Sprache bestimmen. Das wichtigste in der Seelsorge aber ist die Zeit, ohne die Kosten dafür aufzuschreiben.

Von Claudia Kohli Reichenbach*

Auf diversen Karteikarten von Gästen, die im Grandhotel Waldhaus im bündnerischen Vulpera nach 1920 ein- und ausgingen, stand die Anweisung «Keine Ostergrüsse mehr!» Neulich wurde diese Gästekartei im gleichnamigen Bildband (2021) veröffentlicht. Sie lässt tief blicken in eine Welt, in welcher der Gast König war, heimlich aber beobachtet, belauscht und vor allem kommentiert wurde. Herr Seiler aus Berlin sei ein «[k]omischer & sehr launischer Mensch». Mrs. Yvonne R. aus New York «[s]pinnt auf Hochtouren!», auch ihr sind keine Ostergrüsse mehr zu schicken, denn sie «[s]ollte nun wirklich nicht mehr genommen werden.»

Ostergrüsse zu verschicken ist die Kernauf­gabe der Seelsorge. Und zwar an jeden und jede, unabhängig vom Status, ohne Ansehen dessen, was jemand verbrochen hat, ohne Furcht vor Abgründen, Unlösbarem, Ambivalenz. Diese Haltung ist radikal. Sie kennzeichnet die «Muttersprache» (P. Bosse-Huber) der Kirche, welche es nur wegen Ostern gibt. Wobei damit nicht behauptet sei, dass die Kirche ihre «Muttersprache» bisweilen nicht kläglich vernachlässigt oder gar schändet. Im Grund aber ist mit diesem durch und durch gütigen Blick auf Menschen und ihre Realitäten die Grammatik der kirchlichen Sprache bestimmt.

Diskret, mit grosser Handtasche

Was hätte wohl der Concierge auf die Karteikarte von «Seelsorge» geschrieben? Vielleicht so: «Diskret, auffallend grosse Handtasche. Besucht viele Leute, – was treibt sie genau?»

Diskret ist sie, die Seelsorge. Sie klopft an die Tür des Spitalzimmers und erkundigt sich nach dem Ergehen der Patientin. Sie läuft auf dem Areal der Psychiatrie mit dem schizophrenen Mann eine Runde. Sie besucht die Hundertjährige zum Geburtstag. Und setzt sich ans Bett des Sterbenden, wo sie nicht mehr spricht. Sie mag durchaus wildere Plätze, Jahrmärkte, wo sie sich zu Schaustellenden gesellt. Überall dorthin, wo Menschen sind, wird sie – finanziert von den Landeskirchen – geschickt. In ihrer Handtasche steckt vor allem eins: Zeit. Zeit, die mit keiner Krankenkasse abgerechnet werden kann. Im zunehmend ökonomisierten Gesundheitswesen mit effizient zu gestaltenden Abläufen hat sie Musse auch für lange Gespräch.

Was treibt sie genau, die Seelsorge? Sie hört oft zu. Fragt nach. Ratschläge zu erteilen ist nicht ihr Ding, vielmehr führt sie das Gespräch so, dass Menschen zuerst einmal sein dürfen wie sie sind, jetzt, mit allem Schönen und den Brüchen. Sie erkundet mit den Menschen, was in ihnen angelegt ist an anderen, neuen Möglichkeiten. So diskret die Seelsorge auftritt, sie verlangt von denen, die sie ausüben, einen hohen Grad an Professionalität. Eine wertschätzende, nicht-manipulierende Gesprächsführung will gründlich eingeübt sein. Dazu besuchen Seelsorgende langjährige Weiterbildungen mit pastoralpsychologischer Fundierung. Zentraler Bestandteil ist dabei die Persönlichkeitsschulung, wozu auch ein kritisch reflektierter Umgang mit eigenen und fremden Grenzen gehört.

Dialektkundig

Auf der Karteikarte wäre zu ergänzen, dass die Seelsorge mit Mister Tod bestens bekannt ist. Sie begleitet Sterbende, tröstet Hinterbliebene und proklamiert als christliche Seelsorge, bisweilen wider allen Anschein, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Woche für Woche steht sie am Grab und verkündet, dass einer auferstanden ist, damit wir leben – jetzt erst recht.

Ihre Ostergrüsse verschickt die Seelsorge oft ohne grosse Worte, vielmehr durch ihre Präsenz. Wenn sie spricht, braucht sie ein feines Gespür für den Dialekt. Denn die religiöse Landschaft wandelt sich gegenwärtig stark, traditionell-religiöse Sprache klingt für viele Zeitgenossen kaum mehr. Über das, was uns übersteigt, was unfassbar und nicht verrechenbar bleibt, wird in neuen Zungen geredet.

Neulich sass ich am Küchentisch von Herrn P., um die Beerdigung seiner Mutter zu besprechen. Die ersten Minuten waren harzig, Herr P. machte keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber der Kirche. Lange habe ich ihm zugehört, als er innig über seine schmerzlich vermisste Mutter erzählte. Drei Tage später feierten wir in der Kirche einen würdigen Gottesdient – er, eine Handvoll Bekannte und ich. Die Ostergrüsse scheinen angekommen zu sein, vermittelt über die Seelsorge, dieser «Muttersprache» der Kirche.

 

 
* Claudia Kohli Reichenbach ist Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Bern und Pfarrerin in der Petrus-Kirchgemeinde Bern.

 

Was für die Seele gut ist

An Allerseelen gedenken wir der Verstorbenen. Ihre Seelen sind uns vorausgegangen, heisst es. Wir, die wir leben, können bloss der Seele Sorge tragen. Die Kirchen ihrerseits haben dazu die Seelsorge im Angebot. Was ist die Seele überhaupt, was ist gute Seelsorge und wäre es nicht auch mit ein bisschen Selbstoptimierung getan? 

Die reformierte Pfarrerin Claudia Kohli Reichenbach (siehe Text oben) und der Psychiater Daniel Hell werden im Rahmen der Vortragsreihe «Was für die Seele gut ist» in der Berner Petruskirche (Brunnadernstrasse 40, Bern) am Montag, 1. und 8. November, jeweils von 19.30 bis 21.00, zum Thema sprechen. Veranstaltung mit Zertifikatspflicht. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

 

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