Gewaltlose Friedensdemos genügen oft nicht, um einen Aggressor zu stoppen. Friedensdemo in Bern. Foto: Sylvia Stam

Selig sind die Gewaltlosen?

Selbstverteidigung als moralisches Recht

Die russische Invasion in die Ukraine stellt Christ:innen vor ein Dilemma: Soll man für Gewaltlosigkeit eintreten oder darf man Waffenlieferungen befürworten?

Von Daniel Bogner*

Noch vor kurzem war unvorstellbar, dass mitten in Europa ein souveräner Staat zum Opfer eines Angriffskrieges würde. Was auch immer historische Zusammenhänge oder politische Fehler des Westens sein mögen - nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt die Invasion Russlands in die Ukraine.

Wir alle fragen uns: Was ist hier die richtige Reaktion? Darf man, ja muss man vielleicht sogar Gewalt einsetzen, um den Aggressor zu stoppen? Im Ohr haben wir die Seligpreisungen des Neuen Testaments: «Selig sind die Gewaltlosen, denn sie werden das Land erben» (Mt 5,1-11) Und nun werden Waffen geliefert, um die ukrainische Armee auszurüsten. Expert:innen erläutern, wie man damit Hubschrauber oder auch Flugzeuge vom Himmel holen kann… Ist das der Geist des biblischen Glaubens? Müssen wir nicht eine andere Antwort finden, um Konflikte zu lösen?

Moralisches Recht auf Selbstverteidigung

Ein entscheidender Aspekt der theologisch-ethischen Bewertung ist, dass die Ukraine Opfer eines völkerrechtswidrigen Übergriffs geworden ist, der noch dazu mit Methoden ausgeführt wird, die gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht - die sogenannten Genfer Konventionen - verstossen. Darin ist festgelegt, dass im Kriegsfall Militär nur gegen Militär kämpfen darf, die Zivilbevölkerung jedoch kein explizites Ziel kriegerischer Aktionen werden darf. Putins Militär aber bombardiert Spitäler und Wohnquartiere!

Kriegsgrund und Kriegsführung sind also rechtswidrig und amoralisch. Daraus ergibt sich ein moralisches Recht der Selbstverteidigung. Der Ukraine in diesem Kampf beizustehen, auch mit Waffenlieferungen, ist legitim, weil es zum Ziel hat, dem Aggressor eine Grenze zu setzen und damit weiteres Leid von der Bevölkerung abzuwenden. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist auch, dass die Waffenlieferungen auf Bitten der ukrainischen Regierung erfolgen. Es ist also nicht das Interesse westlicher Länder leitend, einen Stellvertreterkrieg auf dem Rücken eines Drittlandes zu führen.

Wenn andere Mittel versagen

Eines aber bleibt klar: Die Ausübung von Gewalt ist nichts, was man gutheisst oder sich wünscht. Es ist verhängnisvollerweise die Sprache, in der man zu antworten gezwungen ist, weil alle anderen Sprachen - etwa die der Diplomatie, der Politik, der Zusammenarbeit - versagen. Waffenlieferungen können ein Mittel sein, wenn andere Mittel versagt haben und das Ziel vor Augen ist, zu einem Ende der Gewalt zurückzufinden. Auf dieses Mittel zu verzichten, weil man ein höheres Prinzip der absoluten Gewaltlosigkeit respektieren möchte, kann deshalb im Ergebnis zu mehr Gewalt führen und das Gegenteil dessen bezwecken, was man beabsichtigt.

Darüber hinaus ist es wichtig, die Risiken zu sehen, die jeder Umgang mit Gewalt und Gewaltmitteln stets birgt: Auch wer «nur» liefert, kann unversehens zur Kriegspartei werden. Er oder sie riskiert damit eine Ausweitung des Konflikts und trägt nicht mehr nur zur Selbstverteidigung des Angriffsopfers bei. Anderen Waffen zu liefern, bedeutet deshalb, mitverantwortlich zu sein dafür, was diese damit machen. Die Selbstverteidigung muss dazu führen, die Sprache der Gewalt so bald wie möglich abzulegen und mit anderen Mitteln eine Verständigung herbeizuführen.

 

* Daniel Bogner ist Professor für Moraltheologie und theologische Ethik an der Universität Freiburg.

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