In Krisen ist innere Widerstandskraft gefragt. Foto: istock

Stehaufmenschen

Was bedeutet Resilienz?

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(10.11.22)Sie gehören zum Leben und können einem ziemlich zusetzen: Krisen. Zum Beispiel, wenn eine Beziehung zerbricht oder ein Mensch stirbt, der einem nahe war. Dann hilft eine Fähigkeit, die unter dem Begriff Resilienz Furore macht, wieder auf die Beine zu kommen: innere Stärke, innere Widerstandskraft.

Von Marcel Friedli

Bei einem Verkehrsunfall stirbt ein zwanzigjähriger Mann.

Solche Geschehnisse stellen alles auf den Kopf, werfen einen aus der Bahn. Sie lösen grundsätzliche Fragen aus: Fragen nach dem Sinn. Zweifel, tiefe Traurigkeit.

Stirbt ein Mensch so jung und unerwartet, ist Resilienz gefragt: jene Kraft, die einem hilft, dieses Geschehnis zu verarbeiten, zu verdauen, wieder auf die Beine zu kommen; dem Leben trotzdem irgendwann wieder zu vertrauen (vgl. Box).

Bei diesem so unerwarteten Tod helfen Rituale. An der Beisetzung auf dem Friedhof und danach in der Kirche nehmen vierhundert Menschen Abschied: Sie zünden Kerzen an. Sie legen Rosen hin und überdecken den Sarg mit Erde. In Erinnerungen lassen sie den jungen Mann aufleben.

Wieder ins Machen kommen

«Solche gemeinsamen Rituale», sagt Peter Sladkovic-Büchel, Gemeindeleiter von Worb St. Martin, «schenken Raum, in den Schmerz hineinzugehen, sich selber damit zu konfrontieren und ihn auszuhalten. Sie lassen Menschen spüren, dass sie auch im grössten Schmerz etwas machen können – sie erfahren, dass sie trotz allem nicht machtlos sind.»

Damit bewegen sich Betroffene aus der Opferrolle hinaus; ein weiterer Aspekt von Resilienz. Zudem gehen sie in den Schmerz hinein: nehmen Gefühle wahr, setzen sich mit ihnen auseinander. Versuchen, sie anzunehmen, auch wenn das unangenehm ist. Der Umgang mit den Gefühlen ist im Trauerprozess, bei dem Resilienz zum Tragen kommt, zentral.

Ein tödlicher Unfall löst grössere Fragen aus: Warum passiert so etwas? Welchen Sinn soll das haben? «Auch nach der Beisetzung und der Abschiedszeremonie», weiss Peter Sladkovic-Büchel, «hat ein solches Geschehnis keinen Sinn. Doch es ist hilfreich, der Sinnlosigkeit eine Stimme zu geben, sie gemeinsam auszusprechen.»

Dies ist der erste Schritt, der gleichzeitig eine Grundhaltung von Resilienz beinhaltet: Akzeptanz. Es geschehen Dinge, die das eigene Verstehen übersteigen. Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann und auf die man keinen Einfluss hat, ist eine grosse Herausforderung und bedarf der Geduld.

Würdigen und ermuntern

Nicht nur Extremsituationen wie der Tod eines jungen Menschen erfordern Resilienz. «Auch Trennungen», weiss Peter Neuhaus von der Fachstelle Ehe-Partnerschaft-Familie der katholischen Kirche Region Bern, «gehören zu den schwierigsten Lebenssituationen. Oder wenn die Partnerin oder der Partner eine Affäre hat. Und wenn Konflikte die Beziehung oder Ehe trüben: Das stürzt die Menschen oft in Krisen, in denen an ihre Resilienz appelliert wird.»

Als Therapeut versucht Peter Neuhaus, die individuelle Welt seiner Klient:innen zu erfassen. «Ich versuche zu ergründen, wie sie darauf reagieren: ob ihnen das Geschehnis komplett den Boden unter den Füssen wegzieht. Oder ob sie in vierzehn Tagen das Ereignis bereits einordnen können und den nächsten Schritt ins Auge fassen.»

Bei einer Trennung oder bei Konflikten helfe es, gut zuzuhören und auf den Menschen einzugehen, sagt Peter Neuhaus. «Und zu würdigen, dass die Situation schwierig ist.» Der nächste Schritt besteht darin herauszufinden, was der Mensch nun braucht. Und was er selber machen kann, im Sinne von: erfahren, dass er selber wirken kann. Dass er wirksam sein und machen kann.

«Das, was an Fähigkeiten da ist, gilt es zu stärken – und aufzubauen, was noch nicht da ist», sagt Peter Neuhaus. «Oft ist es zielführend zu fragen, was in früheren Situationen geholfen hat. Sich daran zu erinnern, dass man früher schon Krisen bewältigt hat, kann die Situation in neuem Licht erscheinen lassen.»

Schlummernde Kräfte wecken

Andere Menschen sind eher auf der Bedeutungsebene erreichbar, wie Peter Neuhaus ergänzt. «Könnte die Krise, in der ich mich befinde, für etwas gut sein? Meist sieht es in einem Jahr anders aus.»

Die allermeisten Menschen kann man irgendwo abholen, wie Peter Neuhaus aus neunjähriger Erfahrung bei Ehe-Partnerschaft-Familie weiss. «Indem man sich an eine Fachperson wendet und sich Hilfe holt, zeigt sich, dass irgendwo eine Kraft schlummert – und dass man die Hoffnung hegt, den Weg aus der Krise zu finden.»

 

Wie ein Gummiband

Wörtlich bedeutet Resilienz: Elastizität. Sie ist die Fähigkeit, Widrigkeiten zu trotzen und sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Wie ein Gummiband ist Resilienz eine Kraft, die Menschen immer wieder aufrichtet, wenn ihnen Unangenehmes widerfährt.

Dieses Phänomen beinhaltet drei Grundhaltungen:
Optimismus:
Bis zu einem gewissen Grad kann ich dies einüben, indem ich den erfreulichen Aspekten besonders Aufmerksamkeit schenke.
Lösungsorientierung: In jeder Schwierigkeit verbirgt sich die Lösung – im Sinne von Veränderung. So verwandle ich vermeintliche Probleme in Möglichkeiten, Angebote, Chancen.
Akzeptanz: Mit der Erkenntnis, dass Dinge geschehen, die ich nicht ändern kann, lerne ich, Rückschläge, Verluste, Misserfolge in das eigene Leben zu integrieren. Dazu gehört auch, mich selber anzunehmen: mit allen Stärken und Schwächen; ebenso meinen Körper.

Vier Fähigkeiten ergänzen diese drei Aspekte:
Sich selbst regulieren:
Dies bedeutet, Gefühle, Gedanken und Impulse zu steuern, ohne sie zu unterdrücken. Indem ich erkenne, was und wie ich denke, beeinflusse ich mein Gemüt.
Beziehungen gestalten: Mich empathisch in andere hineinversetzen, ohne zu (ver-)urteilen. Und: Ich muss nicht alles selber schaffen – ich darf mir helfen lassen.
Verantwortung übernehmen: die Opferrolle verlassen, indem ich Verantwortung übernehme für mein Denken, Fühlen, Handeln.
Zukunft gestalten: Wofür lohnt es sich, meine Tatkraft einzusetzen? Sehe ich meinen Leitstern, nehme ich Umwege, Hindernisse und Rückschläge in Kauf.

Quelle: Monika Gruhl. Resilienz. Die Strategie der Stehauf-Menschen. Krisen meistern mit innerer Widerstandskraft. Herder-Verlag

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