Der Tod macht uns oft hilflos. Uraltes Wissen zur Sterbebegleitung ist verloren gegangen. Die Seelsorgerin Ursula Fischer und der Pflegefachmann Gregor Tiete sind eines der Tandems, die im Kurs «Letzte Hilfe» vermitteln, was man für Sterbende tun kann.
Interview: Anouk Hiedl
Fotos: Pia Neuenschwander
«pfarrblatt»: Auf welche Nöte treffen Sie am Sterbebett? Wie gehen Sie damit um?
Ursula Fischer: Mitunter äussern Sterbende Ängste oder stellen letzte, für sie dringliche Fragen. Manchmal stehen auch Zweifel und Schuldgefühle im Raum. Hier braucht es ein sorgfältiges Hinhören und Vortasten, was an Klärung noch nötig und möglich ist. Unsere Aufmerksamkeit muss auch den Angehörigen gelten. Einige sind verunsichert. Sie möchten dem Sterbenden Gutes tun, wissen aber nicht wie. Andere sind vom langen Wachen am Bett oder der häuslichen Pflege so erschöpft, dass sie den Tod des Sterbenden herbeiwünschen und darüber ein schlechtes Gewissen haben. Verständnis und das behutsame Aufzeigen gangbarer Wege im Umgang mit Gefühlen können entlasten.
Gregor Tiete: Beim eigentlichen Sterben bin ich selten anwesend. Eine schwere Erkrankung verändert das Erleben oft radikal. Der Boden unter den Füssen wird brüchig. Schon vor dem Sterben zeigt sich Leid in körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Symptomen. Zuerst versuche ich, das individuelle Leid, aber auch die vorhandenen Lebensquellen der Erkrankten und ihrer Angehörigen wahrzunehmen. Gemeinsam planen wir dann die nächsten Schritte mit dem Ziel, Belastendes ein wenig leichter werden zu lassen.
«Wichtiger als der Ort ist das Ambiente – die Hilfestellungen und die Menschen auf diesem letzten Lebensabschnitt.» Ursula Fischer
Bei Palliative Care geht es (auch) ums bewusste Sterben. Wie unterstützen Sie Sterbende?
Gregor Tiete: Jeder Mensch geht beim Sterben einen eigenen Weg. Es ist meine Aufgabe, diesen wahrzunehmen, zu respektieren und zu begleiten. Über das eigene Leid und Sterben zu sprechen, fällt vielen schwer. Es braucht Vertrauen, damit dies möglich wird. Auch gemeinsames Schweigen kann beredt sein. Als Pflegefachmann muss ich dennoch mitunter unangenehme Fragen stellen, um bei Komplikationen frühzeitig handeln zu können.
Ursula Fischer: Als Seelsorgerin versuche ich zu erkennen, was dieser Mensch jetzt von mir braucht: meine blosse Anwesenheit, das stille Aushalten und Durchtragen einer schwierigen Situation. Transzendente Räume im Gebet eröffnen, den Sterbenden und seine Familie segnen, ein Kirchenlied singen. Eine biblische Geschichte erzählen, die mithilft zu deuten, was noch beschäftigt oder tröstet. Ein Ritual bewusst durchführen, z. B. ein Kreuzzeichen machen, eine Kerze anzünden oder den kleinen Engel in die Hand geben, der auf dem Nachttisch steht und Bedeutung hat.
Was können Angehörige tun?
Gregor Tiete: Angehörige übernehmen einen grossen Teil der Pflege und Begleitung von Schwerkranken, die zu Hause sterben möchten. Sie sind rund um die Uhr anwesend. Nur durch ihr Dasein und ihre Fürsorge ist ein Sterben zu Hause möglich. Dabei treten Fragen auf, Unsicherheiten und Ängste. Ihr Leid ist manchmal grösser als das der Sterbenden. Wir Pflegefachleute begleiten sie mit, stärken sie durch Informationen zum Sterbeverlauf und geben unser Wissen in Pflegeverrichtungen an sie weiter, soweit sie dies möchten.
Ursula Fischer: Oft ermutige ich sie auch, in einem guten Mass zu sich selbst zu schauen, um bei Kräften zu bleiben: genügend essen und trinken, schlafen, sich immer wieder vom Sterbenden lösen und an die frische Luft gehen. Im Laufen reduziert sich Anspannung. Jeder Mensch stirbt für sich und auf seine Weise. Wir können in diesen Prozess nicht wirklich eingreifen, nur flankierend zur Seite stehen und darauf vertrauen, dass jetzt eine «höhere Macht» alles Weitere in die Hände nimmt.
Wann beginnt ein Mensch zu sterben? Was passiert?
Gregor Tiete: Sterben ist ein Prozess. Manchmal dauert dieser lange, manchmal ist er kurz. Allgemein gesagt: Die Lebensenergie schwindet. Organe verlieren ihre Leistungsfähigkeit. Dies zeigt sich zuerst in zunehmender Schwäche bis zur Bettlägerigkeit. Das Interesse an der Umwelt nimmt ab. Essen und Trinken verlieren ihre Notwendigkeit. Später verändern sich das Bewusstsein und die Atmung. Was der sterbende Mensch dabei erlebt bleibt ein Geheimnis.
Ursula Fischer: Der Sterbeprozess beginnt mit der Geburt. Eine erste Trennung, ein erster bewusster Abschied findet statt, wenn die Nabelschnur abgebunden wird. Der Tod begleitet uns von Anfang an. Rainer Maria Rilke hat es so formuliert: «Der Tod ist gross. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns». Mit jeder Stunde unseres Lebens rücken wir näher ans Ende heran. Unmittelbar vor dem Tod beginnen manche Menschen über das, was ihnen widerfährt, in einer bildhaften, symbolischen Sprache zu reden, die auf verschiedenen Ebenen gedeutet werden kann. «Ich will nach Hause gehen», muss nicht unbedingt der Sehnsucht nach dem letzten Wohnort Ausdruck geben, sondern kann der Wunsch sein, über sich hinaus, in ein anderes ewiges Leben zu gehen. Dorthin, wo erhofft wird, bereits verstorbene Angehörige wiederzusehen.
«Fast alle schöpfen Kraft aus einer Quelle, die nicht in ihnen selbst liegt.» Gregor Tiete
Wie kann man gut Abschied nehmen?
Gregor Tiete: Da machen auch wir, noch mitten im Leben stehend, laufend Erfahrungen. Mir fällt ein Abschied leichter, wenn ich sagen kann: Das gemeinsam Erlebte war für mich gut – mit Freud und Leid. Ich bin dankbar dafür, freue mich, wenn es für dich auch gut war und hoffe, du kannst mir meine dir zugefügten Verletzungen verzeihen.
Ursula Fischer: Manche können nicht gehen, ohne noch einmal die ganze Familie um sich zu haben. Andere möchten nur noch Kontakt zur engsten Bezugsperson. Immer wieder müssen wir uns im Leben ja verabschieden, von Menschen, Orten, Lebensabschnitten. Wie gehen Sterbende damit um? Was war ihnen wichtig? Antworten darauf können helfen, ihren letzten Abschied gut zu bewältigen.
Ist es einfacher zu sterben, wenn man an Gott glaubt?
Gregor Tiete: Was ist mit Gott gemeint? Die meisten, denen ich in meiner Arbeit begegne, sagen mir, sie glauben nicht an Gott und sind dabei nicht verzweifelt. Meine Erfahrung zeigt: Fast alle glauben an etwas, schöpfen Kraft und Inspiration aus einer Quelle, die nicht in ihnen selbst liegt. Sich darin geborgen zu wissen, bereichert das Leben und trägt so hoffentlich auch zu einem Urvertrauen im Sterben bei. Es gibt Gottesbilder und spirituelle Überzeugungen, die einem das Leben und dann auch das Sterben schwer machen.
Ursula Fischer: Das ist für mich sehr abhängig vom jeweiligen Gottesbild. Wer die Vorstellung eines strengen, strafenden Gottes in sich trägt, wird wohl nicht leicht aus dem Leben gehen. Das könnte anders aussehen, wenn man sich beschützt und begleitet weiss: «Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin Du auch gehst. Ich verlasse dich nicht» (Gen 28,15).
Welche Rolle spielt der Ort beim Sterben?
Ursula Fischer: Giovanni Segantini liess wenige Stunden vor dem Tod sein Bett ans Fenster seiner Engadiner Hütte auf dem Schafberg stellen, um «seine» Berge zu sehen. Sie waren für ihn «Altäre des Lichts». An so einem Ort zu sterben, muss tröstlich sein. An einem Ort, wo man sich mit der Natur, sich selbst und einem grösseren Ganzen in Einklang weiss. Obwohl viele Menschen sich heute wünschen, zu Hause zu sterben, entschlafen die meisten doch im Spital oder Heim. Vielleicht spielt der Ort gar nicht so eine grosse Rolle, sondern vielmehr das Ambiente – die Hilfestellungen, die einem gegeben werden, und die Menschen, die auf diesem letzten Lebensabschnitt mit dabei sind.
Gregor Tiete: Der Wunsch, zu Hause zu sterben, muss zusammen mit Angehörigen gut besprochen werden. Wichtig ist, Bedenken, Ängste zu äussern und zusammen zu klären. Sterbende und ihre Angehörigen sollen sich sicher und gut begleitet fühlen, das Leiden soll bestmögliche Linderung erfahren. Und nicht zu vergessen: Die Angehörigen sollen bei Kräften bleiben. Wenn dies trotz Unterstützung von Spitex und mobilem Palliativdienst zu Hause nicht möglich ist, gibt es in der Stadt Bern drei Palliativstationen mit spezialisierten Pflegefachleuten und Ärzt*innen, die die fehlenden Bausteine zu einem umsorgten Sterben hinzufügen. Die Palliativversorgung in Pflegeheimen kenne ich zu wenig.
Wo möchten Sie sterben?
Gregor Tiete: Hauptsache, gut umsorgt. Wo meine Wünsche auf ein wohlwollendes Echo stossen. Wo jemand Zeit für mich hat. Wo es hoffentlich gelingen wird, meine Schmerzen genügend zu lindern. Mit Blick auf die Berge, einen See oder einen alten Baum. Aber vor allem versöhnt mit mir, meinen Nächsten und mit Gott. Und dann habe ich noch ein paar Wünsche für die Zeit danach. Ob sie in Erfüllung gehen?
Ursula Fischer: Es gibt Räume, wo ich mir gut vorstellen könnte, zu sterben. Entscheidend ist für mich aber anderes. Der Tod ist ein Geheimnis, in das ich dann unweigerlich eintauchen werde. Darauf bin ich neugierig. Ich glaube, im Tod spielt sich eine ganz intensive Begegnung zwischen mir und Gott ab. Es wird eine wunderbare Erfahrung sein, die alles bisher Erdachte übersteigt.
Kursangebot «Letzte Hilfe»
Seelsorgende und Pflegefachleute bieten in Tandems «Letzte Hilfe»-Kurse im Kanton Bern an. Die Teilnehmenden erfahren Wichtiges zur Sterbebegleitung:
• Was passiert beim Sterben?
• Wann beginnt das Sterben?
• Wie kann ich als Laie unterstützen und begleiten?
• An wen kann ich mich wenden, wenn professionelle Unterstützung nötig wird?
Der eintägige Kurs beinhaltet die Themenschwerpunkte «Sterben als Teil des Lebens», «Vorsorgen und Entscheiden», «Leiden lindern» und «Abschied nehmen». Weitere Infos, Kursdaten und -orte: www.kirchenpalliativebern.ch/letzte-hilfe-bern