Während ich mit meiner Tochter Spanischvokabeln wiederhole, setzt sich in meinem Kopf eine Tragödie zusammen. Als lebte in mir ein Erzählautomat, der – mit Wörtern gefüttert – unaufhaltsam kleine Geschichten produziert. Was ist das für ein Impuls, der ständig damit beschäftigt ist, aus losen Einzelteilen sinnvolle Fäden zu weben? Auf der Strasse kreuzt mich eine Frau: gebeugt, zerschlissen, Plastiktaschen, Gemurmel, schwupps: eine Geschichte. Nun überholt mich ein Mann: Sportkleidung, Neon, Headset, Befehlston, schwupps: die nächste Geschichte. Attribuierungsprozesse nennt das die Sozialpsychologie. Der Mensch denkt mit, stellt Zusammenhänge her, ordnet Einzelnes in einen grösseren Kontext ein. Leider unterlaufen uns dabei ständig Fehler. Untersuchungen zeigen, dass wir dabei meistens daneben liegen, gerade wenn wir aus äusseren Beobachtungen auf das Innere von anderen schliessen. Das hat viel mit dem Tempo zu tun. Es lohnt sich, diesen Prozessen unbedingt die nötige Zeit zu widmen. Zum Beispiel an Pfingsten: Gewaltig – verwirrt – Spott –betrunken – erfüllt –träumen – Wunder – ausgegossen – gemeinsam.
Marianne Kramer, reformierte Seelsorgerin