Der Ukrainekrieg ist eine «Zeitenwende für Europa». Joachim Gauck.
Foto: Vera Rüttimann

«Traue keinem Katholiken»

Bürgerrechtler, Theologe, ehemaliger Bundespräsident – Joachim Gauck sprach in Bern

«Zeitgedanken – Freiheit und Toleranz»: So hiess die Veranstaltung der Universität Bern und der Burgergemeinde Bern, die unlängst im Casino Bern stattgefunden hatte. Gast war der deutsche Altbundespräsident Joachim Gauck. Er sprach über die Grenzen von Freiheit und Toleranz.

Von Vera Rüttimann

Im vollen Saal des Casino Bern tritt ein prominenter Gast ans Rednerpult. Joachim Gauck war evangelischer Pastor zu DDR-Zeiten, ehemaliger Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und 11. Bundespräsident Deutschlands. Gespannt sind die Gäste darauf, was Joachim Gauck zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sagt. Der Redner nennt ihn «kaltblütig» und eine «Zeitenwende für Europa».

Über die Rolle Deutschlands sagt Joachim Gauck: «Wir sollten uns gerade wegen unserer Taten in der Nazizeit stärker engagieren für Menschenrechte.» Es gebe eine Zurückhaltung, die weder moralisch noch politisch klug sei. So sei er dankbar über den Schritt von Bundeskanzler Olaf Scholz, in Milliardenhöhe aufzurüsten. Er fügt hinzu: «Ich bin darüber nicht glücklich, aber die liberale Demokratie überlebt nicht von selbst. Sie muss täglich erkämpft werden.»

«Sie sind gesegnet»

Der Schweiz ist Joachim Gauck sehr verbunden. Er ruft den Leuten im Saal ins Gewissen: «Sie leben in einem gesegneten Teil Europas!» Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland oder jetzt der Ukraine sei die Schweiz von schrecklichen Kriegen verschont geblieben. Eine so lange Periode des Friedens sei etwas Grossartiges und überhaupt nicht selbstverständlich. «Ich möchte, dass Sie diese Aussage ganz tief in Ihrem Herzen verankern. Ich möchte, dass Sie das niemals vergessen», ruft Joachim Gauck energisch in den Saal. «Schade», sagt er, «sind Sie nicht Mitglied der EU.» Er akzeptiere das, aber «meine Seele ruft nach Ihnen.»

«Für Toleranz muss man leiden»

Ein grosser Teil seines Redebeitrages dreht sich um das Thema Toleranz. Sie ist für den CDU-Politiker hart erarbeitet: «Toleranz muss zur Anerkennung des anderen führen. Und manchmal muss man dafür leiden.» Der gebürtige Rostocker weiss, wovon er spricht. Tolerant zu sein, das sei ihm zu Beginn seiner Politikerlaufbahn schwergefallen. Gauck sass als Abgeordneter für die Partei «Bündnis 90/die Grünen» im ersten frei gewählten Parlament. Zusammen mit der PDS, der Nachfolgepartei der SED. Verantwortlich für die Toten an der Mauer. «Ich sagte mir: Was wollen die denn hier?» Er sei sehr wütend gewesen. «Ich sagte jedoch zu meinem Bauch: Alter, ruhig, tief durchatmen. Diese Menschen sind wie du frei gewählt worden.» Ob ihre Ansichten gefallen, sei da zweitrangig.

Als Joachim Gauck über die ersten freien Wahlen spricht, wird er emotional: «Ich habe geweint. Ich musste 50 alt werden, um zum ersten Mal frei wählen zu können.» Es sei nicht selbstverständlich, dass wir unsere Gedanken und unseren Gefühlshaushalt zivilisieren können. Genau darum gehe es aber in einer Demokratie: «Toleranz ist ein Geschenk an die Zivilisation der Menschen.»

Gelebte Toleranz

Auch in seinem Alltag als evangelischer Christ wurde Joachim Gauck schon früh mit dem Thema Toleranz konfrontiert. «Als ich jung war, gab es Geschichten über Paare, die evangelisch und katholisch waren und heiraten wollten. Das ging nicht. Einer in unserem Dorf hat sich sogar umgebracht, weil das Milieu das nicht zugelassen hat», erzählt der Ostdeutsche. Auch die Integration der Sudetendeutschen nach dem Krieg sei nicht problemlos verlaufen. Die katholischen Vertriebenen waren Vielen ein Fremdkörper. «Mir wurde als Kind gesagt: Traue keinem Katholiken! Mein Leben hat mich gelehrt, dass das ein Irrtum war. Heute freue ich mich über das herzliche Verhältnis zwischen den evangelischen und katholischen Christen.»

Andersartigkeit zu benennen, ist für den 82-Jährigen wichtig. Sie sei aber nicht der Beginn von Intoleranz. Der Berliner ist überzeugt: «Die Leugnung von Indifferenz ist eine grosse Torheit gegen das Leben.»

Lebenselixier der Demokratie

Der Gastredner wird auch zu seinem Verhältnis zu der hierzulande praktizierten Praxis der Demokratie befragt. Er vergleicht die Politik des ausbalancierten Konsens mit dem Runden Tisch. «Ich weiss, dass die Schweiz dieses Model zum Prinzip erhoben hat», sagt er. Er wisse aber auch, dass der Meinungsstreit sehr heftig geführt werden könne. Der Alt-Bundespräsident dazu: «Richtig streiten und sich artikulieren können, sind Lebenselixiere der Demokratie.»

Joachim Gauck macht in diesem Kontext einen Link zur 89er-Revolution in der DDR: «Deshalb war so etwas besonders, dass damals Menschen aufgestanden sind für die Freiheit mit dem für mich schönsten Satz in der Politikgeschichte: Wir sind das Volk!» Diese Selbstermächtigung wünscht sich Joachim Gauck auch für das ukrainische Volk.

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