Blick von der Insel-Dachterrasse.
Foto: ahu

Trotzdem

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Wieso beschützt mich Gott nicht? Eine Frage, die mir in der einen oder anderen Form immer wieder gestellt wird. Wo bleibt das Gütige? Wo ist Gott? Letzte Woche wieder. Der Mann vor mir war geflohen, hatte alles verloren, was man verlieren kann, und war auf der Flucht ausgenutzt, zusammengeschlagen, verraten worden. Er schaute mich an und fragte, wo er denn sei, in welchem Land, in welcher Stadt? Er habe an einen Gott geglaubt, der einen beschützt. Und jetzt?

Hat er nicht recht?, fragte ich mich. Was lese ich jeden Tag in der Zeitung oder im Internet? Unzählige Konflikte weltweit, Missgunst überall, organisiertes Verbrechen, Drogenhandel, Umweltzerstörung. Und all die Menschen in der Schweiz, die trotz relativer Sicherheit auch grosse Sorgen plagten? Was konnte ich derart abgründigen Erfahrungen, solchem Schmerz, solcher Verzweiflung, solcher Enttäuschung entgegenhalten? Wieso noch leben wollen und nicht nur müssen?

Schliesslich gingen wir hinaus in den Gang, zum Lift und fuhren hoch hinauf aufs Dach der Insel. Er schaute hinunter auf Bern, das er noch nie zuvor gesehen und von dem er kaum je gehört hatte, auf eine überschaubare Welt ohne Krieg und Massenverfolgung. Es ist ein Unterschied, ob man dem Leid der Welt in einem Spitalzimmer begegnet, gefangen in einem Raum mit vier weissen Wänden, unwissend, was ausserhalb ist, oder hoch oben und draussen mit Weitblick. Es gibt Gutes. Es gibt Friede. Auch wenn dieser Friede kein Himmel auf Erden ist und auch Nöte kennt.

Erst dort oben, in dieser Situation, dachte ich an Victor Frankl. Frankl, der selbst unsäglich gelitten hatte, war Holocaust-Überlebender gewesen, hatte Verfolgungen, Gewalt und Verluste erlebt, war in mehreren Konzentrationslagern interniert gewesen und hatte es trotzdem geschafft, nicht am Leben zu verzweifeln. «...trotzdem Ja zum Leben sagen» heisst vielsagend eines seiner Bücher.

Ich erzählte dem geflüchteten Menschen neben mir davon. Er seinerseits erzählte mir ein paar Tage später, dass er nun ab und zu in den Lift steige und hochfahre, aufs Dach der Insel. Unsere Stadt sei so friedlich. Und er wollte wissen, ob das Gebäude mit der goldenen Kuppel tatsächlich unser Regierungsgebäude sei, und von wem wir regiert würden und wie? Meinen Ausführungen zu unseren sieben Bundesräten und zu den beiden Parlamenten hörte er genau zu. Und ich glaube, aus seinen Fragen und seinem Zuhören einen Hauch von Jasagen herausgehört zu haben – trotzdem.

Nadja Zereik, Seelsorgerin Inselspital

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