Mosaik in der Apsis der Kirche San Clemente (Rom), Kreuz inmitten der Lebensbaum- (bzw. Wein-) Ranken. Foto: wikimedia

Über Kreuz ...

Eine neue Sicht auf Sühne und Erlösung

Das Kreuz ist das zentrale Symbol der Christ:innen. Nach christlichem Glauben hat Jesus Christus die Menschheit durch seinen Tod am Kreuz erlöst. Aber wovon eigentlich? Und wie könnte Erlösung heute gedacht werden? Diese einfachen Fragen zeigen: Am Kreuz hängt nicht zuletzt das Gottesbild.

Von Jonathan Gardy

«Jesus ist für dich gestorben», «Er hat unsere Sünden getragen» – solche Kurzformeln berufen sich auf eine breite Tradition, die den Tod Jesu als Sühnopfer deutet: Sein unschuldiges Leiden und Sterben am Kreuz hätten alle menschliche Schuld aufgewogen. Weil er stellvertretend für die Menschen litt, könnte Gott ihnen vergeben und den Himmel öffnen. Diese Interpretation reicht bis zu Paulus zurück und wurde mit der Satisfaktionslehre Anselm von Canterburys (†1109) kirchlicher Mainstream. Wie die Theologie Hans Urs von Balthasars (†1988) zeigt, wird das Kreuz Jesu auch heute noch als Sühnopfer verstanden.

Fragen zum Sühnopfer

Doch immer mehr Christ:innen haben mit der Sühnopfertheologie ihre Schwierigkeiten: Warum bedarf der Allmächtige eines Opfers um den Menschen zu vergeben? Was ist das für ein Gott, der sich besänftigen lässt vom grausamen Tod seines Sohnes? Darf man ihm vertrauen und auf ihn hoffen? Wie soll es gehen, dass einer für die moralische Schuld eines Anderen geradesteht? Und hätte Jesus in dieser Deutung nicht nur gelebt, um am Kreuz zu sterben?

Um es kurz zu machen: Es gibt keine intellektuell und existentiell befriedigenden Antworten auf diese kritischen Anfragen. Die Sühnopfertheologie hat ausgedient. Sie wird eher als Hindernis denn als Hilfe für ein erlöstes Dasein wahrgenommen. Wer dem Kreuz eine heilvolle Bedeutung abgewinnen will, muss neu ansetzen.

Erlösung – aber wovon?

Worauf soll sich Erlösung überhaupt beziehen? Was ist es, das einen Menschen fesseln und lähmen kann? Wer schuldig geworden ist, trägt mitunter schwer daran. Das erlösende Wort «Ich vergebe dir» kann sich niemand selber sagen. Mit seiner Schuld stösst ein Mensch an eine Grenze, die er aus eigener Kraft nicht überwinden kann. Auch mit anderen Grunderfahrungen wie Angst, Sinnlosigkeit und Scham wird er nicht selber fertig.

Angst

«Habe ich alles im Griff? Wird meine Rente reichen? Liebt mein:e Ehepartner:in mich noch in zehn Jahren, obwohl er oder sie mich dann viel besser kennen wird? Wer hält meine Hand, wenn ich sterbe? Und geht dann alles zu Ende?» Solche und ähnliche Fragen treiben jede:n um. Der Mensch ist auf andere angewiesen, um zu überleben und um gut zu leben. Diese Abhängigkeit ist gefährdet. Es gibt eben Schicksal, Untreue und Verrat. Sicher scheint nur der Tod. Er wirft seinen Schatten voraus: die Angst. Sie kann lähmen und blind machen. Ein von Angst befreites Leben wäre nicht nur schön und stark, sondern auch dazu fähig, das Richtige zu tun. Aber kann es das überhaupt geben – ein Leben, das den Tod nicht scheut? Und falls ja: Wie müsste man es anstellen?

Sinnleere

Auch die zweite Grenze steht in Zusammenhang mit dem Tod: drohende Sinnlosigkeit. Wenn jedes Leben unvermeidlich an sein Ende kommt und sogar unser Sonnensystem einmal vergeht: Was soll ich dann noch tun? Wozu mich abmühen? Eine grosse Leere tut sich auf. Erlösend wäre eine Antwort auf die Sinnfrage, die den Tod einschliessen und noch über ihn hinausreichen würde.

Scham

In einer von schnellen Bildern geprägten Welt ist der Blick von aussen übermächtig geworden. Der Anpassungsdruck ist hoch. Was zählt, ist die messbare Leistung – Misserfolg hat keinen Platz. Wer da nicht mithalten kann, fällt zurück, verstummt, wird unsichtbar. Wie befreiend wäre es, sich vor dem Blick wenigstens eines Anderen nicht mehr schämen zu müssen! Schon das würde helfen, sich mit sich selbst zu versöhnen. An diesen und weiteren Grenzen kann man sich wund stossen – überwinden lassen sie sich nicht. Hier wird erkennbar, dass der Mensch auf Erlösung angewiesen ist. Kann das Kreuz ihm helfen?

Ein Symbol für das, was immer schon galt

Vor gut 40 Jahren entwickelten die Theologen Hans Kessler (*1938) und Karl Rahner (†1984) ein neues Verständnis des Kreuzestodes: Jesus verkündete in Wort und Tat, dass Gott es unbedingt gut mit uns meint. Wie der barmherzige Vater im Gleichnis (Lk 15) sucht Gott die Versöhnung mit den Menschen – ohne eine Wiedergutmachung zu fordern.

Auf Gott kann der Mensch bedingungslos vertrauen, im Leben wie im Sterben: Für diese frohe Botschaft gab Jesus alles. Als sie abgelehnt wurde und er in Bedrängnis geriet, hätte er seinem Tod durch Flucht oder Gewalt ausweichen können. Dann aber wäre sein Evangelium an Unglaubwürdigkeit gestorben. Also blieb Jesus gewaltlos und liebend zugewandt – sogar denen gegenüber, die ihm das Leben nahmen.

Dass er von der Verbundenheit mit Gott nicht nur sprach, sondern aus ihr auch die Kraft zu einem freien Leben (und Sterben!) schöpfte, machte Jesu Botschaft glaubwürdig. Und insofern lässt sich sagen: Jesus Christus ist für uns gestorben. Aber vorher hat er auch für uns gelebt! Das Kreuz und die Auferweckung Jesu Christi machen glaubhaft, dass Gott in ihm geoffenbart hat wie er wirklich ist: sym-pathisch (griech.: mitleidend) mit den Menschen, radikal gewaltlos und hingebungsvoll bis zum Letzten.

Kann das Vertrauen auf einen solchen Gott erlösen von Angst, Leere und Scham? Der Blick auf das Kreuz erinnert an einen Menschen, der sich ganz in Gott festmachte. Wie sein Gebet im Garten Gethsemani am Vorabend seiner Hinrichtung zeigt, war er nicht frei von Angst. Aber er liess sich von ihr weder lähmen noch von seinem Ziel abbringen. Jesus wusste, wofür er lebte: «Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben» (Joh 10,10). Sein Beispiel zeigt auch, dass liebevolle Hingabe das Leben reich macht und den Tod überdauert.

Schliesslich die Scham: Am Kreuz hing ein nackter Versager. Die meisten seiner Jünger:innen hatten ihn verlassen. In den Augen der Anderen war er ein gescheiterter Hochstapler, der sich als Sohn des Höchsten ausgegeben und schliesslich nur von ihm verflucht worden war. Eine grössere Beschämung lässt sich kaum vorstellen. Dass Jesus sie ertragen konnte, erinnert an einen Gott mit anderen Massstäben (vgl. 1 Kor 1,18-31; Phil 2,5-11). Er wendet sich den Armen und Bedrängten zu und richtet die Gebeugten auf (Ps 145,14). Er selbst macht von Bethlehem bis Golgota deutlich: Es ist keine Schande, ein blosser Mensch zu sein.

Das Kreuz ist kein harmloses Symbol. Es erinnert auch an das Leid und die Ungerechtigkeit, welche die Menschheitsgeschichte seit jeher begleiten. Doch der Blick auf das Kreuz soll nicht Angst machen, sondern Mut: zu einem befreiten, hingebungsvollen Leben nach der Weise Jesu Christi.

 

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