Zusammen mit verschiedenen Politiker:innen lanciert der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband eine Kampagne zur digitalen Barrierefreiheit. Fotos: Vera Rüttimann

Überall nur noch Touchscreens

Digitalisierung darf niemanden ausschliesssen. In Bern wurde eine Kampagne lanciert

Digitalisierung darf keine Menschen ausschliesssen. Das fordert der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) unlängst an einer Medienorientierung im Berner «Progr». Unter dem Titel «Digitale Barrierefreiheit. Jetzt» lanciert der Verband eine Sensibilisierungskampagne für die Bevölkerung. Sie ist nötig.  

Von Vera Rüttimann

Es gibt in der Schweiz Hunderttausende Menschen, die durch eine Sehbehinderung Einschränkungen in ihrem Alltag erleben. Verstärkt wird dies durch die fortschreitende Digitalisierung. Gabriela Suter, Nationalrätin (SP) sagt auf dem Podium: «Personen mit visueller, auditiver oder kognitiver Beeinträchtigung können digitale Informationen oft nicht oder nur eingeschränkt nutzen.» Sie nennt als Beispiel Parlamentsdebatten, die per Livestream übertragen werden. Auch wenn man Websites lanciere, müsse man bedenken, dass es Menschen mit visueller, auditiver oder kognitiver Einschränkung gebe. Sie fordert: «Es ist daher wichtig, dass wir sämtliche Barrieren im digitalen Raum abschaffen.»


Dialog an der Restaurantkasse

Franziska Roth, Nationalrätin (SP) gab Einblick in ihren Alltag in Solothurn, wo sie lebt. Unlängst habe sie dort ein Restaurant besucht. Bei der Bezahlung, die nur digital möglich war, erfolgte folgender Dialog. Sie: «Wie machen Sie es, wenn ich blind wäre?» – «Wären Sie blind, wären sie nicht alleine unterwegs» – «Aber auch mein Blindenhund könnte das Terminal nicht bedienen». Die Praktikantin, berichtet Franziska Roth, habe sich daraufhin entschuldigt und gemerkt, sie sei für solche Personen nicht sensibilisiert.

Die Heilpädagogin sagt: «Eine wirklich freie Gesellschaft zeigt sich an der Teilhabe aller.» Menschen mit einer Behinderung werden im Alltag nicht mitgedacht. «Im besten Fall werden sie als Verbraucherin benutzt, weniger als Menschen, die in der Gesellschaft ihren Wert einbringen können.»


Inklusion fördern

Es sei wichtig, so die Initianten der Kampagne, dass Barrieren für Sehbehinderte gar nicht erst entstehen. Dafür plädiert auch Gerhard Andrey. Der Nationalrat (Grüne) hat vor zwanzig Jahren eine erste barrierefreie Website lanciert. «Ich habe gehofft», sagt er, «dass sie zum Industriestandart wird und private Unternehmen mitziehen werden. Ich wurde jedoch enttäuscht.» Franziska Roth fügt hinzu dazu: «Gerade die neuen digitalen Technologien könnten die Inklusion fördern, damit noch mehr Menschen mit einer Beeinträchtigung den Weg in den ersten Arbeitsmarkt finden können.»


Viele konkrete Forderungen

Wie schwierig das Leben als Sehbehinderte sein kann, schildert Luana Schena vom SBV-Vorstand: «Ich kann nicht mal meinen Kaffee an der Maschine rauslassen, weil überall nur noch Touchscreens sind.» Wenn sie zur Arbeit die S-Bahn von Oerlikon nach Zürich HB nehme, wisse sie nicht, welche Zug ihrer sei. «Ich kann die Zuganzeigen auf den Displays nicht lesen. Ich muss jemanden um Hilfe bitten.» Die App «Intros» für Sehbehinderte helfe ihr mittlerweile zwar sehr, dennoch sei der Weg zur Arbeit oftmals schwierig.


Deshalb, so Roland Studer, Präsident des SBV, habe der Verband konkrete Forderungen an die Politik: So unter anderem die konsequente digitale Barrierefreiheit aller digitalen Angebote und E-Votings und E-Collecting. «Die Parlamentswahlen 2023 sollen die letzten sein, bei denen Menschen mit einer Seheinschränkung nicht autonom mitwählen können.» Das gelte auch für Unterschriftensammlungen, die ebenfalls elektronisch ermöglicht werden sollen. Derzeit läuft zudem die Unterschriftensammlung für die Inklusions-Initiative.

«Wir sind permanent dran»

Der SBV, so Roland Studer, «schlägt deshalb Alarm». Der Verband plant mit einer 360-Grad-Kampagne etliche konkrete Massnahmen. So ist unter anderem eine Kampagnenlandingpage geplant, auf der sich Menschen mit ihren Testimonials eintragen können. Es gibt weiter eine breit angelegten Social Media-, Listbuilding- und Mailing-Kampagne. Es wird zudem Strassenaktionen geben sowie der erste Digital Inclusion Hackathon, bei dem Expert:innen Lösungsspiele und Ideen entwickeln.

Roland Studer betont: «Wir sind nicht nur vor Wahlen permanent dran mit Aktionen.» Warum das nötig ist, erzählt er in einem Beispiel: «Es kann nicht sein, dass alte Menschen, die sehbehindert geworden sind, abends nach einem Konzert nicht mehr in der Lage sind, ein Busticket zu lösen, nur weil da ein Display ist.» Warum dauern Massnahmen trotz des Behindertengleichstellunggesetzes von 2004 so lange? Roland Studer: «Es liegt an der Bequemlichkeit der Menschen. Es ist einfacher, keine Rücksicht auf andere zu nehmen.»


«Viele wissen es nicht»

Viele Menschen wissen schlicht nicht, wie sehbehinderte Menschen leben. Das bestätigt auch Marianne Maret, Nationalrätin (Die Mitte): «Viele Menschen sind sich nicht bewusst, wie sehr Menschen mit solchen Beeinträchtigungen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind.» Deshalb setze sie sich voll und ganz für ihre Anliegen ein.

Wie auch Gerhard Andrey: «Ich werde nicht aufhören, Druck auszuüben. Man kann nicht auf das Prinzip Hoffnung setzen und glauben, dass etwas passiert.» Die Barrierefreiheit muss künftig automatisch mitgedacht – und umgesetzt werden.
 

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