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Un-Mut

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Mit den Drogen kam er erstmals im Mutterleib in Kontakt und seinen ersten Entzug überlebte er nach der Geburt nur knapp. Nach dem ersten halben Jahr in der Kinderklinik wurde er in einem Kinderheim untergebracht, die Mutter ist zweimal aufgekreuzt und hat getrunken und geweint, danach haben sich ihre Spuren verloren. Sein Name war Arschgesicht oder Specki, wenn die Betreuerinnen nicht hinhörten. Als er elf jährig wurde, hat sich ein Mann gemeldet und gesagt, er sei sein Vater; es war ein bisschen schön. Er hat ein Foto seiner Mutter bekommen, welches er später verloren hat. Zum zwölften Geburtstag hat der Vater ihn mitgenommen in ein Etablissement, die Frauen dort waren fast nett zu ihm und hatten sehr rote Lippen und der Vater sagte, er werde jetzt ein richtiger Mann und er wolle zuschauen, ob er schon ficken könne. Das Ficken war einfach und die Behörden fandens aber nicht gut und haben den Kontakt zum Vater verboten. Es kam die Phase, wo er mindestens einmal am Tag abhaute, randalierte; er musste in ein anderes Heim und auf ein Schiff, wo es darum ging, Regeln einzuhalten. Die Drogen kamen einfach, nichts war naheliegender, und sie haben ihm die vielleicht einzigen wohligen Momente verschafft. Mit 16 hat er bei einem Überfall eine Frau spitalreif geschlagen; auf der Flucht vor der Polizei ist er vom Balkon gesprungen, aber es tat nicht weh, auch das Gefängnis tat nicht weh, nichts tat eigentlich mehr weh. Er vertraute niemandem und umgekehrt und das war angemessen.

Er starb mit 19 Jahren an einer Überdosis allein auf der Intensivstation. Die Beiständin hatte an diesem Tag frei. Die Pflegefachfrau hat sich bei der Extubation kurz gefragt, ob sie die Seelsorge dazu rufen solle für so ein bisschen Würde, hatte sich dann aber nicht dafür.

Ich hoffe auf die Auferstehung der Toten und das Abwischen aller ungeweinten Tränen – nie mehr als bei einer solchen Situation. Wie die Dichterin Kaschnitz bin ich ganz unmutig.

Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig

(Marie Luise Kaschnitz, Kein Zauberspruch. Gedichte, Frankfurt a. M. 1972, 57)

Kaspar Junker, Seelsorger im Inselspital

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