Die Tage von Palmsonntag bis Ostern geben ein Panoptikum menschlicher Grunderfahrungen wieder. In seinen Texten zur Karwoche im ökumenischen Fastenkalender von HEKS und Fastenaktion geht der Münsinger Pfarreileiter Felix Klingenbeck über die Nacherzählung der Passion Christi hinaus und deutet sie auch aus sozialpolitischer Sicht.
von Anouk Hiedl
«Fünf Mal max. 800 Zeichen», lautete Felix Klingenbecks Vorgabe für Impulse zu den Kartagen im Fastenkalender der Ökumenischen Kampagne von Fastenaktion und HEKS. So machte er sich letzten Frühling daran, den Kern und die Quintessenz dieser Geschehnisse herauszuarbeiten. Als Pfarreileiter macht sich Felix Klingenbeck jährlich Gedanken zur Karwoche und zu Ostern. «Jedes Mal schäle ich etwas heraus, das mit der aktuellen Situation zu tun hat. Der Kontext und die Aktualität liegen dabei immer wieder etwas anders. Auch im Fastenkalender habe ich die biblische Überlieferung der Karwoche mit Themen verbunden, die heuer aktuell sind.»
Shalom – Pax – Frieden
«Die Evangelien sind Nachkriegsliteratur», hält der Theologe fest. Der Jüdische Krieg (66–70 n. Chr.) endete mit der römischen Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels. «In den Ruinen des verwüsteten Landes geschrieben, erzählen sie von vor dem Krieg», erklärt Felix Klingenbeck. «Das Bild eines Friedenskönigs, der auf dem Esel kommt, und eines Gottes, der die Waffen vernichtet (Sach 9,9–10), war in diesem Kontext unglaublich präsent. So auch heute, angesichts der vielen Kriege.» Diese Parallelen finden sich im Text «Friedenskundgebung» zu Palmsonntag wieder.
«Nehmet und esset alle davon»
In der Bibel wird deutlich, dass Hunger zu Jesu Zeit zum Alltag gehörte. «An einem Sabbat ging er durch die Kornfelder und unterwegs rissen seine Jünger:innen Ähren ab» (Mk 2,23) heisst es oder, nach Palmsonntag, «Als sie am nächsten Tag Betanien verliessen, hatte er Hunger» (Mk 11,12). Im Textimpuls «Randvoll» zum Hohen Donnerstag (siehe Kasten) bezieht sich Felix Klingenbeck auf diese Passagen des Markusevangeliums. Für Felix Klingenbeck steht auch das Letzte Abendmahl im Kontext der Suche nach dem täglichen Brot.
Randvoll
Hungrig sind sie durch die Felder gestreift
auf der Suche nach einer nährenden Ähre,
Jesus und seine Vertrauten.
Hungrig sind sie umhergestreift
auf der Suche nach dem täglichen Brot.
Hungrig bricht Jesus nach dem Palmsonntag auf.
Es fehlt und mangelt an allen Ecken und Enden.
Nur dann und wann – etwa bei jenem letzten
gemeinsamen Mahl – geschieht es,
dass alle satt werden:
eine Handvoll Brot für jede und jeden und randvoll der Becher.
Wo geteilt wird,
da geschieht Verwandlung.
Wo dazu beigetragen wird, dass niemand
hungrig schlafen gehen muss,
da ereignet sich Zukunft.
Eine Handvoll Brot für jede und jeden und randvoll der Becher.
«Tut dies zu meinem Gedächtnis.»
Durch alle Zeiten.
«Jesu Brotbrechen ist ein dankbarer, ehrfürchtiger Moment. Er und seine Jünger:innen kannten die Erfahrung, zu wenig zu essen zu haben, nicht zum Essen zu kommen. Und das nicht aus Business-Stress, sondern weil wirklich nichts da war.» An diesem Abend hatten alle zu essen und zu trinken: «Nehmet und esset alle davon.» In diesem Zusammenhang lasse sich Jesu «Tut dies zu meinem Gedächtnis» als religiöses Ritual wiederholen und auch als sozialpolitische Aufforderung verstehen. «Die Verpflichtung, dass alle zu essen und zu trinken bekommen und teilen, gilt bis heute», hält Felix Klingenbeck fest. «Das Ziel ist, dass es für alle reicht.»
Hunger nach Gerechtigkeit
Der spanische Theologe und Historiker Bartolomé de las Casas sei im 16. Jahrhundert auf einen Text aus dem Ersten Testament gestossen: Wer jemandem Brot vorenthalte, morde und er lästere Gott (Jes Sir 34,21–27). Man könne kein Brot teilen, das auf Unrecht basiert, ergänzt Felix Klingenbeck.
Brot teilen habe stets auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung, erfolge nicht nur individuell, sondern umfasse, «wie wir mit dem umgehen, was auf der Erde ist». Wandlung sei nicht nur aufs Brot bezogen, sondern umfassend auf die Gesellschaft, das Zusammenleben. «Es geht darum, den Zustand, dass die einen hungrig schlafen gehen, zu verändern.»
Den Text «Handlungsfähig» zu Karfreitag beginnt Felix Klingenbeck mit einem biblischen Blick auf die Geschehnisse und die Freund:innen Jesu, die dem gegenüber ohnmächtig sind. «Drei Mal fällt Jesus hin. Es ist unerträglich. Viele gehen fort. Doch einige tun, was man noch tun kann. Sie bleiben da, auch wenn es zum Davonlaufen ist.»
In «Dazwischen» (siehe Kasten) befasst sich Felix Klingenbeck mit der schwierigen Situation am Karsamstag. «Etwas Schreckliches ist passiert. Nun ist es leer. Nichts ist mehr, wie es vorher war, alles ist durcheinander. Keine Ahnung, wie es weitergeht, ob es anders wird, ob es gut kommt.» Mit solchen «Dazwischen»-Situationen werde man mitunter ganz plötzlich konfrontiert. «Was, wenn ein lieber Mensch stirbt, ein Krieg ausbricht, man in eine Krise gerät? Plötzlich ist man am Ende. Ob und welchen Neuanfang es geben wird, weiss man nicht.»
Dazwischen
Es geht nichts mehr.
Es herrscht Stillstand.
Nicht nur die Strassen sind leer.
Der Tod hat sich breitgemacht.
Das Unheil hat seinen Lauf genommen.
Nicht einmal der Gang zum Grab ist möglich.
Ein Ende und kein Neubeginn in Aussicht.
Eine Niederlage, und keiner steht wieder auf.
Eine Enttäuschung, und kein nächster Schritt gelingt.
Ein Misserfolg, und keine versucht es erneut.
Es geht nichts mehr. Es herrscht Stillstand.
Nicht nur die Strassen sind leer. Einen ganzen Tag lang.
Und nicht selten dauert dieser Tag mehrere Tage.
Und manchmal dauert dieser Tag Wochen
und bisweilen gar Jahre.
Es geht nichts mehr. Es herrscht Stillstand.
Und in den Strassen irrt die Hoffnung umher,
dass all das ein Dazwischen sei.
Zwischen Ende und Neubeginn.
Zwischen Niederlage und Aufstehen.
Zwischen Enttäuschung und nächstem Schritt.
Zwischen Misserfolg und erneutem Versuch.
Zu welchem nächsten Schritt und ob es zu einem neuen Versuch, einem Aufstehen komme, wisse man nicht. «Dieses Dazwischen ist so leer, dass es keine liturgische Form, keine Karsamstagsfeier gibt. In der Kirche dauert der Karsamstag einen Tag. Im Leben kann er Tage, Wochen, Jahre dauern.»
Auch im Osterimpuls «Frühmorgens» nimmt der Autor auf, dass Veränderung oft sehr viel Zeit braucht und doch unaufhaltsam ist, «wie das Morgenlicht». Drei Tage sei die biblische Chiffre dafür. Die österliche Wandlung von Tod und Gewalt zu neuem Leben kann sich im Grossen wie im Kleinen widerspiegeln. In seinem Text zu Ostern hat Felix Klingenbeck bewusst keine konkreten Wandlungsprozesse aufgeführt. Er soll Raum dafür geben, «dass sich die Leute mit ihren eigenen Erfahrungen darin finden».
Alle Karwochentexte von Felix Klingenbeck: Fastenkalender 2024