Mit dem Streit über die kleine Spritze werden grosse Fragen behandelt, sagt Jonathan Gardy. Foto: iStock

Warnung vor unerwünschten Nebenwirkungen

Ein Kommentar von Jonathan Gardy

«Uns verbindet mehr, als uns trennt», sagt Jonathan Gardy* über die Menschen zu beiden Seiten des Impf-Grabens in seinem Kommentar.

Meine Familie war seit Generationen protestantisch. Die Vorbehalte, ja der Hass auf Katholik*innen gehörte sozusagen zum Erbgut. 1991 geschah das Undenkbare: Ein Kind sollte katholisch getauft werden! Nur mit Mühe war der Grossvater zur Teilnahme am Gottesdienst zu bewegen. Schliesslich kam er aber – und hielt den altgläubigen Täufling stolz im Arm.

Heute wecken solche Geschichten Heiterkeit. Früher aber waren die Grenzen zwischen Konfessionen messerscharf. Sie trennten Liebespaare, rissen Familien entzwei, teilten Dörfer und Staaten. Zum Glück ist das Vergangenheit! Durch die Anstrengungen in der Ökumene und die fortschreitende Säkularisierung verloren die Konfessionen im 20. Jahrhundert ihr polarisierendes Potential. Diese Mauern sind abgebaut.

Doch heute, Jahrzehnte später, droht wieder eine Spaltung: in Geimpfte und Ungeimpfte. Schon zerbrechen Freundschaften über der Frage nach der Impfung. Einladungen zu Hochzeiten, die nur mit dem richtigen QR-Code zugänglich sind, werden abgelehnt oder zurückgezogen. Rüde Worte fallen hier wie dort: auf Seiten derer, welche die Impfung für eine selbstverständliche Bürger*innenpflicht halten ebenso wie bei denen, die ihre Selbstbestimmung eingeschränkt sehen.

Mit dem Streit über die kleine Spritze werden grosse Fragen behandelt. Es geht um Freiheit und Verantwortung, um Zugehörigkeit und Solidarität, gar um Wahrheit und Weltanschauung. Da ist es kein Wunder, dass die Emotionen schnell hochschlagen. Aber das gegenseitige Unverständnis und manche Verletzungen drohen Gräben aufzureissen, die länger bleiben werden als die Pandemie selbst.

Was tun im persönlichen Miteinander? Die andere Person auf ein zertifizierbares Merkmal zu reduzieren, wird die Fronten nur verhärten. Niemand ist nur «impfskeptisch» respektive «unkritisch» – so wie auch früher niemand nur «falschgläubig» war. Der Blick auf das Gegenüber muss wieder weiter werden. Dann wird erkennbar, was Katholik*innen und Reformierte damals lernten: Uns verbindet mehr, als uns trennt. Und gegenseitiges Wohlwollen – auch wenn es nur mühevoll aufgebracht wird – bringt uns gemeinsam weiter.

* Jonathan Gardy ist Theologe und Seelsorger in der Pfarrei Guthirt, Ostermundigen

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