Der Anfang vom Ende. «Judenboykott» vom April 1933 in Berlin. Die Schweizer Juden schreckten die Ereignisse auf, in Bern wurde ein Abwehrkomitee gegründet. Foto: Keystone/DPA/Berliner Verlag

Ungleiche Haltung aber gemeinsamer «Feind»

150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden (3). Ein mutiger Akt in Bern und die Rolle der Kirche.

Im Laufe der zwanziger Jahre verbreiteten sich Rassentheorien rasant, wobei die «Arier» zu «Herrenmenschen» und Juden zu «Ungeziefer» wurden. Der religiös motivierte Antijudaismus der Kirchen bedeutete allerdings nicht, dass sie die Nazi-Ideologie unterstützten. Aus kirchlicher Sicht gehörte auch der Nationalsozialismus zur Moderne, die ihnen widerstrebte.

24 Tage waren seit dem «Judenboykott» in Deutschland verstrichen, als sich Ende April 1933 in der Berner Synagoge neunzehn Männer trafen,um das Vorgehen gegen nazifreundliche Bewegungen in Bern zu besprechen. Hitler war seit elf Wochen an der Macht. Am1. April waren im «Dritten Reich» jüdische Läden geplündert, Menschen auf der Strasse angepöbelt, bespuckt und geschlagen, Anwälten und Ärzten das Patent entzogen worden.
Die jüdischen Gemeinden in der Schweiz sahen sich zwar nicht unmittelbar von dieser Gewalt bedroht, beobachteten aber besorgt den wachsenden Einfluss der «Erneuerungsbewegungen» wie «die Nationale Front» oder «der Bund eidgenössischer Nationalsozialisten». Die Besorgnis war berechtigt. Es bestanden keinerlei Anzeichen von wirksamer Hilfe seitens der nichtjüdischen Mehrheit, jedenfalls nicht von institutioneller Seite. Zu tief prägte das Bild des «Christusmörders» die antijüdische Haltung der Kirchen, zu sehr stemmten sich die Behörden gegen eine angebliche «Verjudung», und der populäre Mythos einer Weltverschwörung trug seinen Teil zur Isolation bei.

Dessen nicht genug: Die jüdische Minderheit war in sich tief gespalten. Die Mitglieder der etablierten Gemeinden stammten aus den ehemaligen Aargauer «Judendörfern» Endingen und Lengnau sowie aus Zugezogenen aus dem nahen Süddeutschland und dem Elsass. Sie hatten mehrheitlich das Schweizer Bürgerrecht und standen politisch dem Freisinn nahe. Anders die Juden aus Osteuropa, die seit der Revolution in Russland auf der Flucht in den Westen waren. Einige liessen sich in der Schweiz nieder, hatten den Ausländerstatus und lebten entweder orthodox oder waren sozialistisch gesinnt. Für die Kirchen waren sowohl der Liberalismus als auch der Sozialismus Ausdruck der verachteten Moderne.

Ablehnung der Rassentheorien

Die Ablehnung der Moderne führte aber auch dazu, dass die Kirchen die neuen Rassentheorien, die seit Beginn des 20 Jahrhunderts kursierten, tendenziell ablehnten. Die «Judenfrage» war für sie letztlich kein «rassisches», sondern ein religiöses Problem. Die Lösung lag bei den Kirchen in der Bekehrung, bei den Behörden in der Assimilation und bei den Nationalsozialisten in der Ausmerzung. Kirchen lehnten die «Erneuerungsbewegungen » tendenziell ab – nicht den Juden zuliebe, sondern weil die Bewegungen mit der Idee des totalen Staates ein potenziell kirchenfeindliches Modell unterstützten.

Wie der Freiburger Geschichtsprofessor Urs Altermatt betont, bestanden zwischen diesen Positionen freilich fliessende Übergänge. Die Weltverschwörungstheorien ab den zwanziger Jahren waren auf allen Seiten populär, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Kirchen betonten vor allem die Behauptung der «geistigen Weltherrschaft», welche die Juden angeblich in Presse, Kultur, Film und Theater anstrebten. Der menschenverachtende Akt vom 1. April 1933 in Deutschland zwang auch die katholische Presse, Stellung zu nehmen.
So beschrieb die katholisch-konservative Luzerner Zeitung «Vaterland» die Ausschreitungen als Kraftprobe zwischen dem «neuen Deutschland » und dem «internationalen Judentum». Die Schuld am«Judenboykott» lag aus Sicht der Zeitung bei den Juden selbst.

Erste Initiativen zur jüdischen Abwehr

Unter all diesen Umständen ist die vorsichtige Haltung der jüdischen Gemeinden durchaus nachvollziehbar.
Eine gewisse Portion Mut zeigte Berns jüdische Gemeinde mit der eingangs erwähnten Versammlung vom24. April. Die Teilnehmer beschlossen die Gründung eines Abwehrkomitees. Dessen Ausrichtung war jedoch heftig umstritten. Während einige Teilnehmer an diesem Abend für ein klare Stellungnahme in der Öffentlichkeit plädierten, bevorzugten andere die Strategie, selber zu schweigen und dafür Nichtjuden als Sprachrohr zu finden. Parallel galt es, die Presse nach antisemitischen Artikeln zu durchforsten. Der Appell des Sekretärs, «einheitliches Vorgehen» zu finden, auch mit jüdischen Gemeinden in anderen Städten, verhallte.
Die Anwesenden bestimmten an diesem Abend in Bern sieben couragierte Männer für das Gremium, unter ihnen den engagierten Prediger Joseph Messinger, den profilierten Anwalt Boris Lifschitz und den frisch gebackenen Anwalt Georges Brunschvig. Trotz der verbreiteten Angst unter den Schweizer Juden vor Diskriminierungen – oder gerade deswegen – entschied sich dieses kleine Gremium, Klage einzureichen gegen die Verbreitung der verheerenden Hetzschrift «Protokolle der Weisen von Zion». in den Jahren 1933 bis 1935 folgte ein weltweit beachteter Prozess in Bern, der aus jüdischer Sicht zum Kampf zwischen dem Judentum und seinen «Ehrabschneidern» schlechthin wurde.

Hannah Einhaus


Zum Dossier

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.